Ich darf mich als Betreiber dieser Seiten vorstellen:
Mein Name ist Hans See. Ich bin ein Politikwissenschaftler, der sich unter demokratietheoretischen, sozial- und klimapolitischen Aspekten mit Wirtschaftsverbrechen befasst. Mehr über mich verrät meine Vita.
Ich freue mich über die regelmäßigen Besucher dieser Seite, aber auch über diejenigen, die eher zufällig darauf gestoßen und noch nicht über die Grundideen, die hier vertreten werden, informiert
sind. Ich sehe auch in Ihnen mögliche Interessenten für das auf dieser Website im Zentrum stehende, lokal-, national- wie weltpolitisch gleichermaßen bedeutsame Problem der Verbrechen, die ich
Wirtschafts- bzw. Kapital-Verbrechen nenne.
In ihrem schwer durchschaubaren Zusammenwirken bilden sie ein illegales Wirtschaftssystem, das ich als Untergrundkapitalismus bezeichne, der ein Komplementärsystem zum legalisierten Kapitalismus
ist. Danach gibt es eine kriminelle und eine legale Ökonomie. Dazwischen eine nicht minder gefährliche Grauzone. Wie diese Ebenen zusammenarbeiten, sich beeinflussen, auf die Lebensbereiche
einwirken, lässt sich meist nur an Symptomen erkennen. Um zu zeigen, was ich damit meine, habe ich einen Newsletter eingerichtet, den man sich (über die obige Leiste anklickbar) kostenlos
zusenden lassen, aber auch jederzeit wieder abbestellen kann.
Meine Zielvorstellung ist es, dieses Portal zu einer möglichst umfassenden, für interessierte Laien, meist Opfer, wirtschaftskritische Nichtregierungsorganisationen, Sozialwissenschaftler und
kritische Journalisten unentbehrlichen Informationsquelle über das Thema zu machen, das ich "kriminelle Ökonomie" nenne. Es gilt vor allem, deren demokratiefeindliche Ergänzungsfunktion zur
legalen Ökonomie der kapitalistischen Demokratien aufzuzeigen, die selbst schon destruktiv genug sind.
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Die Seiten sind noch im Aufbau begriffen. Aber es liegt auch in der Natur der Sache, dass die hier veröffentlichten Darstellungen, Analysen und Lösungsvorschläge kein in sich ruhendes, fertiges Theoriegebäude sein können, sondern schon während des Aufbaus auch Umbauten erforderlich werden. Möglichst zeitnah, aber spätestens dann, wenn die sich oft schnell und überraschend ändernden Verhältnisse es geraten erscheinen lassen, werde ich versuchen, realitätsnahe Erklärungen zu liefern.
Wer sich bisher noch nie oder nur am Rande für das Problem Wirtschaftsverbrechen bzw. kriminelle Ökonomie interessiert hat, aber beabsichtigt, tiefer in die Materie einzudringen, mehr davon zu verstehen, als es die kapitalhörigen Kriminologen und die Konzerne der Meinungs-Industrie für erforderlich halten, sollte sich die Zeit nehmen, erst einmal - möglichst mit erhöhter Aufmerksamkeit - den folgenden Text zu lesen:
Wissenschaft am Tropf der Wirtschaft
Das sozialwissenschaftliche Interesse am Thema Wirtschaftsverbrechen ist erschreckend gering. Für mich ist das einer von vielen deutlichen Hinweisen auf die traditionell sozialmentale und - zunehmend - auch materielle Kapitalabhängigkeit des freiheitlich-demokratischen Wissenschaftsbetriebs. Es waren vor allem glückliche Umstände, die es mir ermöglichten, zu diesem Problemkomplex allmählich eine eigene Meinung entwickeln und sie dann auch noch öffentlich vertreten zu können. Allerdings zu einem relativ hohen Preis.
Seit Jahren schon findet mein kriminalwissenschaftlicher Kritikansatz nicht einmal mehr bei jenen wenigen Medien Resonanz, die in den ersten beiden Jahrzehnten meines Wirkens noch halfen, meine bürger- und menschenrechtlich sowie sozialökologisch ausgerichteten, zugegeben betont wirtschaftskritischen, Analysen über die sie ignorierende Fachwelt hinaus verbreiten zu helfen.
Hier nun erweist es sich, bei aller berechtigten Kritik an den "sozialen Netzwerken", die sich - wie inzwischen nicht mehr bewiesen werden muss - auch als "asoziale Hetzwerke" instrumentalisieren lassen, dass dieses Medium unabhängigen Wissenschaftlern letzte Möglichkeiten bietet, an den kommerz- und wirtschaftsfrommen Filtern und Schleusen der freiheitlich-demokratischen Öffentlichkeit vorbei auch unliebsame gemeinnützige Aufklärungsarbeit zu leisten.
Wie lange kapitalkritische Portale wie dieses noch im Internet geduldet werden, weiß ich nicht. Das wird entscheidend davon abhängen, wie klug die Portalbetreiber selbst, aber auch die Rezipienten dieser spezifischen Form der "Aufklärung", mit ihren daraus gewonnenen Erkenntnissen umgehen. Ich werde an anderer Stelle erklären, weshalb ich die Aufklärung über Ursachen, Entwicklungen und Folgen von Wirtschaftsverbrechen als "Dritte Aufklärung" bezeichne. Hier nur so viel zum Vorverständnis:
Die bürgerliche (kapitalistische) Aufklärung, für die in Deutschland Immanuel Kant steht, und die proletarische, deren Klassiker Marx und Engels sind, haben in ihren emanzipatorischen Aufklärungs- und daraus abgeleiteten Gesellschaftsmodellen das Thema Wirtschaftsverbrechen ausgeblendet. Daher haben weder der Kapitalismus (auch nicht der demokratisch-sozialstaatliche), noch der kommunistische Staatssozialismus ihre universalististisch-humanistischen Versprechen einlösen können.
Weder das Vertrauen in die Marktkonkurrenz, die "unsichtbare Hand" und die demokratisch legitimierten Rahmengesetze, noch die planwirtschaftlichen Vorgaben eines Staatssozialismus, waren und sind geeignet, den Missbrauch wirtschaftlicher Macht zu verhindern. Um einsichtig zu machen, was Wirtschaftsverbrechen sind und wie sie auf die jeweiligen Wirtschaftssysteme einwirken, müssen sie studiert und analysiert werden. Hier eine kurze Übersicht:
Ich unterscheide drei Grundformen, man kann auch sagen, tragende Säulen, von Wirtschaftsverbrechen: Nämlich Wirtschaftskriminalität, Organisierten Kriminalität (OK) und aktive Bestechung. Ich hebe die aktive Bestechung besonders hervor, weil seit 1993 das von den Weltbankmanagern Peter Eigen (D) und Robert McNamara (USA) sowie anderen namhaften Topmanagern ins Leben gerufene und von Konzernen unterstützte, also wirtschaftsnahe Antikorruptionsnetzwerk Transparency International (TI) die öffentliche Aufmerksamkeit mit dem Wischi-Waschi-Begriff "Korruption" auf sich zieht und fesselt. Seitdem werden fast nur noch diejenigen kritisiert, die bestochen werden bzw. sich bestechen lassen.
Wenn Sie aus dem Stand die Personen oder Firmen nennen können, mit denen die CSU-Abgeordneten ihre lukrativen Maklergeschäfte in Sachen Anit-Corona-Masken gemacht haben, sind sie besser informiert als die breite, Zeitung lesende, Radio hörende oder Talkshows sehende Öffentlichkeit. Sie nennen die Namen dieser Firmen und ihrer Eigentümer nicht. Umso häufiger die Namen der Abgeordneten, die Geld genommen haben, also ob das geben keine Straftat wäre.
Aktive Bestechung - Attacken gegen die Demokratie
Es liegt auf der Hand, dass Bestechung nicht um ihrer selbst Willen stattfindet und hauptsächlich von denen ausgeht, die über viel Geld und andere wirksame Machtmittel verfügen, die es ihnen ermöglichen, sich über alle Hindernisse, also auch geltende Gesetze, wenn sie lukrative Geschäfte behindern, hinwegzusetzen. Die das tun, sind - gemäß ihrem Betriebszweck - in der Regel Unternehmen, also Unternehmer bzw. die mit unternehmerischen Vollmachten ausgestatteten Angestellten, die Manager.
Die Bestochenen sind, wenn es um Geschäfte zwischen Privatwirtschaft und öffentlichen Auftraggebern oder um Genehmigungen für die Privatwirtschaft geht, Parteien, Politiker, Beamte. In gutem Amtsdeutsch: Amtsträger.
Wenn diese ihrerseits Geld für Aufträge fordern, erfüllt das nicht den Straftatbestand der Bestechung, weder der aktiven noch der passiven, sondern der Erpressung. Doch dieses Problem bleibt in den Debatten und wissenschaftlichen Studien über "Korruption" unerwähnt. Man sollte sich aber klarmachen, dass die Bestechungssummen (oder andere geldwerte Geschenke) meist nur beim erstenmal Schmiermittel sind. Wird die Zahlung fortgesetzt, handelt es sich eher um Schweigegeld. Unternehmen zahlen Bestechungsgelder, um die enormen Wettbewerbsvorteile von Gesetzesbrüchen möglichst ungehindert und unentdeckt zu nutzen. Möglichst, um ihre Verbrechen mit Hilfe der Kontroll-Instanzen, die Gesetzesbrüche eigentlich verhindern müssten, unentdeckt in die Tat umsetzen zu können.
Das aber heißt: Demokratische Kontrollsysteme werden durch aktive Bestechung außer Kraft gesetzt. Nahezu jede aktive Bestechung ist eine Widerlegung der herrschenden Wettbewerbsideologie, ein Angriff gegen das geltende Recht und damit ein Angriff auf die Grundlagen letztlich jeder Form von Demokratie. Diese sich täglich neu bestätigende Beobachtung begründet meine These, aktive Bestechung sei integraler Bestandteil der Wirtschaftskriminalität, sei zugleich ein Angriff auf Mensch und Natur, Demokratie, Staat und Kultur, illegales Marketing. Und damit - nach Krieg und Terrorismus - eine der gefährlichsten aller Arten von Kriminalität, nämlich der Kauf der Demokratie.
Es bleibt dies zunächst - trotz aller Beweiskraft der beobachtenden Praxis - nur eine auf wenige, allerdings schwer zu widerlegende Beispiele gestützte, These. Dass diese es in dieser bewusst zugespitzten Wertung nicht (man muss sagen nicht mehr) in die Schlagzeilen selbst kritischer Zeitungen und schon gar nicht in Talkshows schafft, auch nicht in die der öffentlich-rechtlichen Sender, hat nachweislich mit der durch das Privatfernsehen übermächtig gewordenen kapitalfrommen Meinungsbildungs- und Kulturindustrie zu tun.
Kritik an der Wirtschaft funktioniert zwar noch, wenn sie nicht mit der Forderung verbunden wird, statt der üblichen Compliance, das heißt der Selbstverpflichtung des Unternehmen, geltendes Recht zu beachten, oder statt der Forderung nach schärferer Bestrafung der Verantwortlichen, einfach nur ein wirksames demokratisches Kontrollsystem einzuführen, dass nicht nachträglich bestraft, sondern vorsorglich verhindert. Mein Stichwort dazu: Kriminalpräventive Mitbestimmung. Für demokratische Staaten existiert sie mehr schlecht als recht. Dafür gibt es kritische Medien, Oppositionsparteien, Untersuchungsausschüsse und einiges mehr. Für die Machtzentren der Wirtschaft existieren solche Kontrollen nicht, trotz Mitbestiimmungsrechten der Arbeitnehmer und Gewerkschaften, trotz Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, trotz Bafin und vieler anderer Kontrollinstanzen.
Kapitalhöriger Missbrauch der Meinungs- und Kultur-Industrie
Der gigantischen Maschinerie der Meinungsproduktion gelingt es inzwischen, die Grundstimmung der
Bevölkerung in Richtung Abschaffung der so genannnten "Zwangsgebühren" für die öffentlich-rechtlichen Sender zu manipulieren. Noch ist es glücklicherweise den Privatmedien nicht gelungen, nicht einmal in der Schweiz, wo es versucht wurde, die Mehrheit der Bevölkerungen so zu verdummen, dass sie für die Abschaffung der Gebühren stimmen. Denn diese wäre das Ende der ohnedies hochgradig gefährdeten Meinungsvielfalt. Die aber ist wie kapitalunabhängiger Journalismus, der sie garantiert, notwendig und kann - wenn auch in beklagenswert engen Grenzen - nur von den öffentlich-rechtlichen Medien überhaupt am Leben erhalten werden.
Dass inzwischen hinterhältige Versuche unternommen werden, die öffentlich-rechtlichen Sender auszuschalten, es wird auch von Zusammenlegung gesprochen, lässt erahnen, welche enormen Kräfte im Hintergrund daran arbeiten, auch noch die letzten kritischen Stimmen auf Kapitalkurs zu trimmen. Selbst die pseudokritische Aufklärung dieser Institutionen über den Machtmissbrauch des Kapitals gehen vielen Türhütern schon zu weit. Wenn, dann wird Kapitalismuskritik noch von einigen wenigen Kabarettisten, sogar zu besten Sendezeiten, verbreitet.
Investigativer Journalismus und kapitalkritische Wissenschaft, die in ehren- und unterstützenswerten Resten noch vorhanden sind, neuerdings - wegen der massiven Vorwürfe von Linken und Rechten, die die Mainstream-Medien als "Lügenpresse" attackieren - sogar wieder häufiger zu Wort kommen, sollen aus verschiedenen Gründen doch möglichst neutralisiert werden. Vor allem, wenn sie dazu neigen, das subversive Zusammenwirken verschiedener Ebenen und Formen krimineller Wirtschaftsakteure in Weltkonzernen und nationalen Regierungen aufdecken.
Zum Glück liegt Kritik an Wirtschaftsdelikten durchaus auch im Interesse des Kapitalisten, vor allem des Kapitalisten, der sich noch an die geltenden Gesetze hält. dem seine Konkurrenten direkt oder indirekt schaden, weil sie gegen Wettbewerbsregeln verstoßen und sein Kapital gefährden. Wissenschaftler haben also keine Probleme mit dem Thema Wirtschaftskriminalität, wenn sie beauftragt werden, die Schäden zu untersuchen, die Kapitalisten anderen Kapitalisten zufügen, was vor allem im Bereich der Kapitalanlagen der Fall ist. Denn der Kapitalist darf seine Konkurrenten nur im Rahmen der geltenden Gesetze, nicht mit gesetzwidrigen Methoden enteignen. Auch die Kritik am Steuerbetrug und an der zwar nicht strafbaren, aber moralisch verwerflichen Steuervermeidung der Konzerne (im Gerede sind derzeit Amazon und Facebook, aber die Vorwürfe gegen diese treffen auf fast alle anderen zu) hat in den seit der Wiedervereinigung vergangenen Jahre merklich zugenommen.
Das System einer kriminellen Ökonomie, man darf sagen "Weltökonomie", das sich aus den massenhaften Gesetzesbrüchen vor allem der global tätigen Wirtschaftsunternehmen entwickelt hat, ist nach wie vor ein blinder Fleck nicht nur der verschiedenen dafür zuständigen Wissenschaften, sondern auch großer Teile der Medien. Sie kennen nur Einzelfälle. Ein besonderes Problem ist es, dass sich Wirtschaftsverbrechen immer weniger aus lokaler oder nationalstaatlicher Perspektive erfassen lassen. Ihre wissenschaftliche Erforschung, aber auch ihre journalistische, erfordern eine Weitsicht und einen Aufwand, den nur noch Konzerne selbst aufbringen und bezahlen können.
Hier aber stoßen Erkenntnis und Aufklärung auf die Grenzen des Systems. Allenfalls schaffen es noch, wenn überhaupt, einige globalisierungskritische Nichtregierungsorganisationen wie die "Coordination gegen Bayer-Gefahren" und "medico international", wenn auch nur mit bewusster Schwerpunktsetzung, Konzernverbrechen angemessen ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Aber deren Sprecher sucht man in den massenmedialen Gesprächsrunden vergeblich des öffentlich-rechtlichen Fernsehens vergeblich.
Untergrundkapitalismus als Komplementärsystem der Legalwirtschaft
Ich spreche von einer - übrigens rapide zunehmenden - wechselseitigen Durchdringung von Wirtschaftskriminalität, Organisierter Kriminalität und aktiver Bestechung und fasse das Konglomerat mit dem Sammelbegriff Wirtschaftsverbrechen zusammen. Die - auch durch bestehende Strafgesetze - daran beteiligten, sinnvollerweise zu unterscheidenden Verbrechensarten bilden als Ganzes "ein System". Es lässt sich als ein mit dem legalisierten Kapitalismus teils konkurrierenden, ihn aber auch ergänzenden Untergrundkapitalismus verstehen, der zum legalisierten "freiheitlichen" Kapitalismus gehört, sozusagen ein offiziell Komplementärsystem ist. Es kann sich deshalb so gut entfalten, weil es alle vom Gesetzgeber verbotenen Geschäfte im Untergrund relativ risikofrei dennoch möglich macht.
Die kriminelle Ökonomie ist also das Schlachtfeld, das von vielen Kapitaleignern als notwendige Ergänzung der von ihnen als überreguliert kritisierten Märkte betrachtet wird. Sie werden für notwendig oder unvermeidlich gehalten, um investitions- und "geschäftsschädigende" staatliche Regulierung zu umgehen.
Der staatliche Schutz von Eigentum, Leib und Leben (für Kapitaleigner, Verbraucher, Natur etc.) kann aber nicht - wie die meisten eingeredet bekommen und es auch zu glauben scheinen - mit Verschärfungen des Wirtschaftsstrafrechts, nicht mit der üblichen - der Tradition des Liberalismus verhafteten - Staats-, Demokratie- und Parteienkritik bekämpft werden. Der Untergrundkapitalismus muss als Medium der längst in vollem Gang befindlichen subversiven Konterrevolution erkannt werden. Diese wird mit dem Begriff der Globalisierung des Neoliberalismus nur unzulänglich beschrieben und daher meist nicht als solche erkannt. Hier helfen weder Bürokratie, die so manches Problem zu lösen vermag, noch die Psychiatrie (mit der es im Rechts-Staat Bayern im Fall Gustl Mollath versucht wurde). Hier hilft nur Wirtschaftsdemokratie, und zwar eine, die die Konzerne schon in der Entscheidungsphase, die den Gesetzesbruch beschließt, wirksam kontrolliert.
Die Demokratiefrage muss neu gestellt werden
Die Forderung nach "mehr Demokratie" hilft keinen Schritt weiter, wenn sie nichts weiter als mehr demokratische Kontrolle des Staates durch Opposition, kritische Medien und freie Meinungsäußerungen einzelner Persönlickeiten meint. Manche glauben an die Herabsetzung des Wahlalters. Andere an Frauenquoten. Das alles kann man zum Gesetz erheben, aberes ändert nichts an den Eigentums- und den damit verbundenen realen Eigentums- und Machtsverhältnissen.
Im Rahmen der kapitalistischen Demokratien kann dies sogar bedeuten, dass der Staat noch hilfloser gegenüber den Konzernen gemacht wird, als er ohnedies schon ist. Kapitalistische Demokratien sind nämlich - was Demokratieforscher erstaunlicherweise immer wieder außer Acht lassen - begrenzt auf das Kontrollbedürfniss derer, die über Kapital verfügen. Kapitaleigner akzeptieren bekanntlich nur eine Demokratie, die die Freiheit "des Kapitals" (des kapitalistischen Eigentums) schützt. Sie nennen das "unvollkommene" Demokratie.
Mit der "unvollkommenen" Demokratie ist liberale, allenfalls sozialliberale Demokratie gemeint, die nicht der Wirtschaftsgewalt, sondern der jeweiligen Staatsgewalt Grenzen setzt. Denn dies neigt in Demokratien dazu, private Eigentumsfreiheiten zum Wohl der Allgemeinheit und der Natur einzuschränken. Wenn, dann darf das der Staat oft nur unter kaum zu überwindenden Voraussetzungen. Die Corona-Pandemie hat diese Schwierigkeiten unvermeidlich offengelegt. Schwäche gegenüber der Privatwirtschaft ist Voraussetzung einer freiheitlichen Demokratie. Die diese Schwäche fordern, fordern zugleich den starken Staat, wenn es darum geht, die Not und die Wut derer einzudämmen, die durch die Auswirkungen des monopolisitschen Konzernkapitalismus verursacht werden.Das sind die Merkmale, den bürgerlichen, den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, kennzeichnen.
Daher gibt es für Staatsanwaltschaften in vielen Fällen auch keine gesetzliche Handhabe, gegen gemeingefährliche Bereicherungspraktiken vorzugehen, selbst wenn diese es für nötig erachten. Letzte Hürde ist die Weisungsgebundenheit der Staatsanwälte an ihren zuständigen Minister. Wenn also die weit verbreitete und im Prinzip richtige Forderung nach "mehr Demokratie" für effektiven demokratischen Fortschritt stehen soll, muss sie die Ausdehnung demokratischer Kontrollmacht über den Staat hinaus anstreben, muss sie demokratische Kontrollinstanzen gegenüber den übermächtig gewordenen Konzernen erkämpfen. Dass dazu die Mitbestimmungsrechte der Gewerkschaften nicht geeignet sind, hat sich immer wieder (zuletzt bei den Abgasmanipulationen der Autokonzerne) gezeigt, Das bedarf keiner besonderen Beweise. Es muss nur betont werden, dass diese Mitbestimmung nicht in Frage gestellt werden sollte. Sie ist notwendig und ausbaufähig, bedarf allerdings selbst - soweit es die strafrechtliche Dimension der Unternehmenspolitik angeht - zusätzlicher demokratischer Kontrollen.
Westliche Demokratien sind kapitalistische Demokratien
Die so genannten westlichen, freiheitlich-demokratischen, repräsentativen, parlamentarischen und auch als wehrhaft bezeichneten Demokratien sind faktisch alle vom selben Typ: Es sind kapitalistische Demokratien. Parteien dürfen daher, wenn sie die Interessen der Konzerne beachten und - wo dies nötig erscheint - auch konsquent durchsetzen, auf ideologische und materielle Unterstützung durch die Kapitalseite und deren Propagandisten in Medien, Wissenschaften und Kulturindustrie hoffen. Parteien, die glauben, die Macht der internationalen Konzerne einschränken zu müssen, werden sehr schnell als Feinde der Demokratie denunziert, diskriminiert und isoliert.
Natürlich versuchen die Verteidiger der Kapitalmacht, die "Feinde der Demokratie" in einen Topf zu werfen. Allerdings macht es einen großen Unterschied, ob die rechten Demokratiefeinde die Demokratie abschaffen und durch einen diktatorischen Führerstaat ersetzen oder die linken Demokratiefeinde die bestehende Demokratie erweitern, also die demokratiefreien Zonen der Wirtschaft in die Kontroll- und Entscheidungsrechte einbeziehen wollen. Die Rechten versuchen ihr Ziel durch die Wiederbelebung nationalistischer und rassistischer Ideologien zu erreichen, faktisch durch eine autarke Wirtschaft zu erreichen, was bei der hochgradigen internationalen Arbeitsteilung und Konzernveflechtung faktisch unmöglich ist. Wie sich unter dem so genannten Natinalsozialismus gezeigt hat, muss man die Welt erobern, unterwerfen und ausrauben, um ein solches Ideal verwirklichen zu können.
Von den Linken kennen wir die Forderung nach Vergesellschaftung der in privaten Händen liegenden Produktionsmittel. Die riesigen unterentwickleten Länder Rußland und China haben nach ihren sozialistischen Revolutionen diesen Versuch unternommen, und ihre kommunistischen Führungen glaubten tatsächlich, auf diese Weise die Entwicklungsstufe des Kaopitalismus überspringen zu können. Es hat sich aber gezeigt, dass sie - wenn auch unter kommunistischen Vorzeichen - mit ihren Parteidiktaturen das nachgehölt haben, was unter rechten Diktaturen kaum möglich gewesen wäre: Sie haben ihre Länder durch gewaltsame Umgestaltung, Elektrifizierung, Alphabetisierung, Modernisierung - trotz der Interventionen der kapitalistischen Demokratien - mit diesen auf Augenhöhe gebracht. Sie vor dem Ausverhauf an die westlichen Imperialistem geschützt.
Deshalb ist die Alternative zum sozialliberalen Kapitaldemokratismus, zu den als regierungsfähig geltenden Parteien, die sich als "politische Mitte" definieren, nicht die antidemokratische, autoritäre, illiberale Demokratie, sondern ein an den Entwicklungsbedingungen der Staaten und Gesellschaften, die wir kapitalistische Demokratien nennen, angepasster, von demokratischen Mehrheiten gestützter und geschützter demokratischer Sozialismus, statt kapitalistische sozialistische Demokratien.
Besonders infam und demagogisch ist die mit den Abwehrkämpfen dieses Sozialismus einhergehende Gleichsetzung von "links" und "rechts", die die Fundamentalisten der kapitalfrommen Mitte - wie man täglich überprüfen kann, nicht ohne alarmierende Erfolge - zur vorherrschenden Meinung zu machen versuchen.
Wer verstehen will, weshalb, trotz dieser Gleichsetzung von "links" und "rechts", die populistische Demagogie der gemeinsten Art ist, und weshalb bisher meist die Rechten gegen die Linken siegen, wenn auch nur in Ausnahmefällen und auf Zeit mit Hilfe faschistischer Diktaturen, der darf die Rolle der Wirtschaftsverbrechen in diesem noch längst nicht in seinem höchsten Entwicklungsstadium angelangten Prozess der Globalisierung des Kapitalismus auf keinen Fall ignorieren. Dass vor allem sich als "Linke" verstehende und als Linke auftretende Sozialwissenschaftler und Politiker sich diesem Themenfeld fernhalten oder nur mit größter Vorsicht nähern, zeigt, dass es sich um ein Minenfeld handelt, das in dem im Kalten Krieg erzeugten und noch immer nachwirkenden politisch-ideologischen Klima des antisozialismus und antikommunismus persönliche Karrieren vernichtet und Wählerstimmen kostet.
(Bis hier wurde der Text leicht überarbeitet. 21.4.2021)
Das Ende der bipolaren Weltordnung und die Folgen
Dass Wirtschaftsverbrechen in den vergangenen 25 Jahren zunehmend auf öffentliches Interesse stoßen, kann vor allem damit erklärt werden, dass die Welt nun (bis auf wenige Nischen) kapitalistisch ist und der Kampf zwischen Kapitalisten (vor allem gesetzestreuen und kriminellen) globale Dimensionen angenommen hat. Dies ist richtig, obgleich die Gesetzgeber noch immer auf ihrer nationalen Souveränität bestehen. Dieser Widerspruch schafft rechtsfreie Räume, die von skrupellosen Kapitalisten und solchen, die es werden oder bleiben wollen, auch gegen andere Kapitalisten und solche, die es noch werden möchten, ausgenutzt werden. Ein Großteil der kaum noch zu lösenden Probleme lässt sich demnach auf den Widerspruch zurückführen, der mit dem Beharren der Herrschenden Klassen auf nationaler Souveränität und ihrer internationalistisch-finanzkalitalistischen Praxis unauflöslich ist. Außerdem ist der Klassenkampf, der über Generationen zwischen "nationalistischen Sozialisten" und "Internationalistischen Kommunisten" klare Fronten geschaffen und über die Jahrzehnte des Kalten Krieges eine bipolare Weltordnung hervorgebracht hatte, seit dem Ende des Kalten Krieges zerstört. Der hatte beiden Seiten die Gewissheit gegeben, die Guten zu sein, deren historische Aufgabe es sei, die anderen, die Bösen, von ihrem System zu überzeugen, vom eigenen aber zu erlösen.
Kann Klassenkompromiss ohne kommunistische Gefahr überleben?
Der Prozess der Spaltung der kapitalistischen Gesellschaften in Gegner und Verteidiger des Kapitalismus, der zunächst die antikapitalistischen Kräfte erstarken ließ, wurde erstmals rabiat unterbrochen und unterdrückt, als die herrschenden Klassen sich entschlossen, dem fanatischen Antikommunisten und Judenhasser Adolf Hitler die Macht zu überlassen. Das Ergebnis ist bekannt. - Nach dem Ende des Kalten Krieges zeigte sich - vor allem jenen, die erst nach dem Fall der Mauer Erwachsen wurden - dass der Antikommunismus, der fast 200 Jahre lang das bewährteste Intergrations-, besser gesagt Bindemittel des modernen Nationalismus war, seine gemeinschaftsbildende Wirkung fast völlig eingebüsst hat. Der Antikommunismus war es auch, der nach dem Zweiten Weltkrieg - angesichts des wachsenden Einflusses der UdSSR - die Nationalisten des freien Westens erst einmal verstummen, ja teilweise sogar zu überzeugten Europäern und Internationalisten werden ließ. Freilich zu Freunden des Internationalen Finanzkapitals, nicht des demokratischen Internationalismus. Die Nazis hatten den Deutschen und aller Welt die Irrationalalität des Nationalismus vor Augen geführt. Doch es waren die Internationalisten des Kapital auf der einen und der Arbeit auf der anderen Seite, die die Einsicht in die Notwendigkeit förderten, nicht länger auf die nationalistischen Kapitalisten zu bauen. Nur so konnten die NATO und, die Bretton Woods Institutinen und die Europäische Union zum antikommunistischen und imperialistischen Bollwerk ausgebaut werden. Gegen den Ostblockkommunismus konnten die demokratischen Antikapitalisten und die Verteidiger des Kapitalismus, den sie als soziale Marktwirtschaft auch für Arbeiter einigermaßen attraktiv zu machen verstanden, zu jenem Klassenkompromiss finden, der seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Durchsetzung dessen, was selbst der neoliberale Bundeskanzler Helmut Schmidt als "Raubtierkapitalismus" kritisierte, wieder in Auflösung begriffen ist. Dass damit die Klassenfrage neu gestellt wird, führt selbstverständlich zur Re-Animation der Rassenfrage.
Kassen-, Klassen- und Rassenfrage
Dass Hitler nicht nur fanatischer Antikommunist und Antisozialist, sondern auch Antisemit und felsenfest davon überzeugt war, dass der Bolschewismus eine Erfindung des jüdischen "raffenden" Kapitals sei, um die Weltherrschaft der deutschen bzw. "arischen Herrenrasse" zu verhindern, wurde bei seinem Aufstieg teils übersehen, teils unterschätzt, von vielen "arischen Unternehmern" aber auch mit Genugtuung und Sympathie zur Kenntnis genommen und zunehmend aktiv unterstützt. In diesem Kontext sind ungeheuerliche Wirtschaftsverbrechen begangen worden, die nach 1945 aufgrund der Konfrontation mit dem Ostblockkommunismus, die den Antikommunismus nun vom Antisemitismus trennte, trotz der nachhaltigen Gedenkkultur, nie wirklich aufgearbeitet, nie wirklich gesühnt wurden. Dies ist eine tiefe Wunde, die nicht heilen will, ja - wie der wieder wachsende rassistische Nationalismus belegt - bei jeder ökonomischen Krise - die sich inzwischen nahezu lückenlos aneienderreihen - wieder zu eitern beginnt.
Schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurden die Arbeiterbewegungen ganz Europas, die bis dahin die inneren Feinde der kapitalistischen Gesellschaften und als solche auch (nicht nur durch Bismarcks Sozialisten- und Sozialgesetze) bekämpft worden waren, mit äußeren Feinden, die sich die herrschenden Klassen selbst gemacht hatten, zur Stärkung der Nation domestiziert. Das heißt, sie wurden integriert, ihr entwickeltes Klassenbewusstsein wieder unterminiert. Die Oktoberrevolution wurde von den linken Sozialdemokraten, die den "Burgfrieden" als den Anfang von Ende der revolutionären Arbeiterbewegung betrachteten, zum Spaltpilz. Sie gründeten eine eigene, eine Kommunistische Partei, die nun nicht mehr nur den Kapitalismus, sondern - mindestens ebenso vehement - den Reformsozialismus und Sozialdemokratismus, genauer, dessen Opportunismus bekämpfte. Da sich die Kommunisten mit der UdSSR identifizierten, wurde die KPD in einem doppelten Sinn zum innenpolitischen Feind, nämlich als Verbündeter einer feindlichen Nation und Verfechter einer freiheitsfeindlichen Ideologie.
Der schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs mit dem so genannten "Burgfrieden" begonnene Integrationsprozess hat mit der Spaltung der Arbeiterbewegung nach der Oktoberrevolution eine selbstmörderische Weichenstellung verursacht, die heute den euphemistischen Namen "Sozialpartnerschaft" trägt. Sie war ein Klassenkompromiss, dessen Fundament der Antikommunismus war. Seit Ende des Kalten Krieges spielt jedoch der Antikommunismus in den Köpfen der Massen eine immer geringere Rolle. Daher die - für jeden erkennbar - wachsende Angst der "Volksparteien", gänzlich unterzugehen. Der bisher durch Antisozialismus und Antikommunismus künstlich erzeugte "Zusammenhalt der Gesellschaft", dessen tragende Säule die "Sozialpartnerschaft" ist, kann ohne den einst bewährten Feind Kommunismus nicht bestehen.
Im Klartext heißt das für die Kapitalstrategen, dass die Klassenkämpfe schon bald wieder ausbrechen und das Klassenbewusstsein auf Seiten der Arbeiter wieder erwachen, also die Kapitalmacht erneut in Frage stellen könnten. Dass das Klassenbewusstsein der Kapitalistenklasse selbst immer wach geblieben ist, erklärt ihren unaufhaltsam erscheinenden Siegeszug. Der politische Arm der Klasse des Weltkapitals sind die nationalen und nationalistischen "Volksparteien", wie immer sie sich sonst mit schönen Adjektiven zu schmücken gewohnt sind. Dass sie seit dem Ende des Kalten Krieges ständig an Einfluss verlieren, weil man ja die Russen und Chinesen nicht mehr wegen ihrer kommunistischen Planwirtschaft, sondern allenfalls wegen ihres entfesselten Kapitalismus, ihrer mangelnden Menschen-, Bürger- und Arbeitsrechte, wegen ihrer niedrigen Löhne und Preise, natürlich auch wegen mangelhafter Umweltpolitik als Gefahr für "unsere Freiheit" anprangern kann, erzeugt Probleme, für die die klassischen Antikommunisten keine Antwort haben.
Jetzt hat es der kapitalistische Westen mit einem kapitalistischen Osten zu tun, jetzt muss die Kritik sich auf die in diesen Ländern noch fehlende Demokratie und Menschenrechtsverletzungen konzentrieren. Der dort zur Zeit herrschende, noch stark national orientierte "autoritäre Kapitalismus" hat - strukturbedingt, aber in Russland und China allein durch die Größe der Länder, ihres Reichtums an Rohstoffen und billigen Arbeitskräften - gegenüber den liberalen und sozialkapitalistischen Demokratien nicht zu unterschätzende Wettbewerbsvorteile. Diese können nur zum Teil durch außerdem schwer und viel zu zögerlich durchsetzbare neoliberale Deregulierungspolitik kompensiert werden. Das erklärt aber - neben anderen Faktoren - die starke Zunahme des systematischen Gesetzesbruchs der Konzerndiktatoren, wo immer sie in der Welt ihren Hauptsitz haben.
Was seit Jahren von Linken aller Schattierungen und kapitalkritischen Organisationen als Neoliberalismus angeprangert wird, ist vor allem die systematische, massiv vorangetriebene Privatisierung öffentlichen Eigentums, öffentlicher Unternehmen und Dienstleistungen, Abbau von inverstionshemmenden Gesetzen und Sozialleistungen. Neoliberalismus, das ist in letzter Instanz die modernisierte imperialistische Antwort des alten freiheitlich-demokratischen Konzern-Kapitalismus des Westens auf den neuen östlichen, autoritären und ebenfalls imperialistischen Staatskapitalismus. Die Wettbewerbsvorteile des autoritären Kapitalismus können vom Westen nicht mehr so wirksam - und auch nicht ohne Selbstschädigung - wie im Kalten Krieg durch Embargos, Zollschranken oder überhöhte Anforderungen an Produktsicherheit unwirksam gemacht werden. Und da die Deregulierung auf Grenzen, zum Beispiel auf den Widerstand der Gewerkschaften stößt bzw. der Kapitalseite zu langsam vonstatten geht, explodieren die einzelnen Bereiche der Wirtschaftsverbrechen. Man könnte sie vor diesem Hintergrund zumindest teilweise als privat vorgezogene Deregulierung definieren.
Die Grenzen des Kampfs gegen Wirtschaftsverbrechen
Wahrscheinlich würden Wirtschaftverbrechen überhaupt nicht bekämpft, wenn sie sich nur gegen die Neukapitalisten der früheren Planwirtschaftsdiktaturen richteten, Aber sie schädigen auch westliche Kapitalisten, Großanleger und den seine Altersversorgung durch Kapitalanlagen sichernden Mittelstand. Dort ist nämlich inzwischen mehr zu holen als durch verschärfte Ausbeutung der Arbeitskräfte der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterklasse, die es noch akzeptabel findet, auch von neoliberalen Sozialstaatsfeinden als "Sozialpartner" bezeichnet und respektiert zu werden. Dass das Klassenbewusstsein wieder erwachen könnte, ist erkennbar die größte Angst nicht nur der "Volksparteien", sondern auch der Herrschaften in den demokratiefreien Chefetagen der Konzerne. Noch ist diese Angst unbegründet, denn die marxistische Kritik der politischen Ökonomie hat noch keine Antwort auf die kriminelle Ökonomie, die sich jeglicher politischen Kontrolle durch Vertrags- und Strafrecht entzieht und durch die bestehenden Formen der Mitbestimmung nicht zu bekämpfen ist.
Daher ist die Debatte um ein neues Klassenbewusstsein innerhalb der Linken nicht auf der Höhe des Bewussseins der heutigen Kapitalstrategen. Sie betreiben Konzernpolitik als Globalpolitik, die unter den weltwirtschaftlich gegebenen Produktionsverhältnissen und noch immer im Namen nationalstaatlicher Souveränität betriebenen Selbstbehauptungspolitik wirkungslos bleibt und deshalb als Fassadendemokratie wahrgenommen und kritisiert wird. Produktionsverhältnisse sind zwar noch immer überwiegend nationale Rechtsverhältnisse, aber selbst dort, wo sie längst durch internationales Recht überwunden sind, sind sie doch kaum noch relevant. Denn der sich rapide entwickelnde Untergrundkapitalismus - also die Akteure der Wirtschaftsverbrechen, die die Gesamtheit der kriminellen Ökonomie ausmachen - kennen keine gesetzlichen Schranken. Weder nationale noch internationale. Die nationalen Gesetzesgrenzen, die früher der klassische Nationalstaat als ideeller Gesamtkapitalist dem Kapital zog (z.B. Antitrustgesetze, Steuergesetze, Sozial- und Arbeitsgesetze), lassen sich heute leicht durch Kapitalflucht meiden. Und von den Grenzen, die dem transnationalen Kapitalverkehr gezogen werden, lassen sich die Interessenvertreter und Strategen des global agierenden Finanzkapitals nicht im Geringsten beeindrucken. Seit dem Ende der "kommunistischen Gefahr" scheinen die Gründe endgültig dahingeschwunden zu sein, die bis zum Kollaps des Weltkommunismus Kapitaleigner und ihre politischen Repräsentanten veranlassen konnten, im Eigeninteresse und im Interesse der herrschenden Klassen, vor allem zur Gewinnung der notwendigen Legitimation der für sie einstehenden Staatsgewalt durch freie Wahlen wenigstens durch formale Einhaltung der sozial- und rechtsstaatlichen Regeln das "freiheitliche System" zu verteidigen.
Grenzen und neue Möglichkeiten der Aufklärung
Immer deutlicher zeigt sich: Weder die Wiederbelebung der bürgerlichen Aufklärung noch die Beschwörung der proletarischen, das heißt der marxistischen Aufklärung, durch wie viele Splittergruppen auch immer, können die beklagten und sowieso nur in den Grenzen der Kapitalinteressen bekämpften Fehlentwicklungen aufhalten und die absehbaren sozialen, humanitären und ökologischen Katastrophen verhindern. Denn diese beiden Aufklärungen, die bürgerliche und die marxistische, griffen immmer und greifen auch heute noch zu kurz, weil in ihren Weltbildern und Problemlösungsideen die Rolle der Wirtschaftsverbrechen nicht vorgesehen ist. Weder der soziale und ökologiekonforme Markt noch der sozialistische Plan können funktionieren, solange die Hauptgegner jeglicher Aufklärung, die Wirtschaftskriminellen, nahezu ungestört und meist auch ungestraft ihre permanente subversive Konterrevolution weltweit gegen jede Aufklärung betreiben können, die diese Autonomie der "Kapital-Verbrechen" nicht erkennt und bekämpft. Denn solange das so ist, ist der Wirtschaftskriminelle der wahre Souverän.
Wirtschaftskriminelle zerstören jede Form von Demokratie, die konkret vorhandene bürgerliche, wo sie besteht, ebenso wie alle Versuche, gegen deren ausbeuterischen Strukturen proletarische bzw. genossenschaftliche Demokratieformen zu entwickeln und zu etablieren. Sie müssen endlich einmal ausdrücklich zu Feinden dieser Demokratien erklärt werden. Dass es genügt, die Schwächen, die jedes Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit versprechende System nun einmal hat, auszunutzen, um zu Lasten von Gemeinschaften partikularistische und privatistische Vorteile zu ergaunern, ist hinreichend bekannt. Dazu bedarf es weit weniger großer Riskobereitschaft als für einen Banküberfall. Dass die kapitalistischen Demokratien besonders anfällig für Wirtschaftsverbrechen sind, scheint jedem einzuleuchten. Denn Freiheit zu missbrauchen, fällt nun einmal leichter als sie zu erkämpfen. Die inzwischen untergegangenen, sich als sozialistische Demokratien verstehenden Systeme, die in Wirklichkeit staatssozialistische Planungs-diktaturen waren, waren jedoch mindestens ebenso anfällig, wenn auch anders. Meine These ist, dass sie vor allem durch ihren Untergrundkapitalismus zerstört wurden.
Einen Demokratischen Sozialismus, der die Massen überzeugt, sie für Wirtschaftsdemokratie mobilisiert, hat es bisher als "System" noch nicht gegeben. Markt- und Planwirtschaftlern haben ihn bekämpft und allenfalls in Nischenformen (als Genossenschaften) mehr oder weniger geduldet. Das jugoslawische Modell, dass einst für eine von Arbeitern selbst verwaltete Wirtschaft den Weg ebnen wollte, hatte keine Chance. Als globales Gesellschaftsmodell konnte sich bisher nirgends ein Demokratischer Sozialismus durchsetzen. Von allen real existiereden Systemen ist er für das Kapital das gefährlichste, nicht zuletzt deshalb konnte es bisher erfolgreich verhindert werden.
Abzulenken von dieser Betrachtungsweise der Wirtschaftskriminalität ist daher das Gebot unserer Zeit. Ablenkung findet auch statt, wenn anstelle der aktiven Bestechung, die in der Regel von der Kapitalseite (den Konzernverantwortlichen) ausgeht, die Vorteilsnahme und Bestechlichkeit von Parteipolitikern, Abgeordneten, Regierungsmitgliedern, Beamten und anderen Amtsträgern so stark betont wird, dass der durchschnittliche Konsument solcher Informationen zu fragen vergisst, wer eigentlich diejenigen sind, die derart gemeingefährliche Anschläge auf demokratische Institutionen, Organisationen und sie repräsentierende Personen verüben. Dass einflussreiche Politiker an Unternehmer herantreten und sie mit dem Versprechen, ihnen öffentliche Aufträge zuzuschanzen, wenn sie ihnen oder ihren Parteien etwas von der Beute abgeben, ist wahr, aber doch eher selten. Es ist nämlich Vorschrift, öffentliche Aufträge auszuschreiben, um die sich Unternehmen bewerben müssen. Hier kommt es zweifellos immer wieder zu hochkriminellen Manipulationen, die aber im gegenseitigen Einvernehmen zwischen Auftraggeber und Bewerber stattfinden.
Es ist sicher nicht nötig zu beweisen, dass unter diesen hier nur angedeuteten Gegebenheiten meine Sicht auf dieses Problem von den die öffentlichen Diskussionen bestimmenden Meinungsmonopolisten, vor allem den extrem einseitig staatskritischen "Wirtschaftsliberalen" in Politik und Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft, überhaupt nicht oder nur mit großen Vorbehalten geteilt wird. Allerdings haben bisher auch Linke, ich meine nicht nur die, die in der Linkspartei organisiert sind, sondern auch Linke in anderen Parteien und in Gewerkschaften, darüber hinaus die wenigen noch in den Medien zu Wort kommenden unabhängigen Linksintellektuellen, nie ein besonderes Interesse gezeigt, sich "nachhaltig", was ja ihr Lieblingsbegriff ist, mit dem Thema Wirtschaftsverbrechen zu befassen. Es vedient heute schon Lob, wenn sie es sporadisch tun.
Ich bedauere das sehr, denn sie überlassen durch ihre Distanz und manchmal sogar offen demonstrierte Ignoranz dieses Thema der Rechten und sind insoweit mitverantwortlich, wenn diese ihre Chancen nutzen können. Denn sie missbrauchen das Thema, wenn sie es aufgreifen, meist erfolgreich dazu, die durch Wirtschaftsverbrechen verursachten sozialen Probleme und Konflikte zu ethnisieren. Ethnisierung sozialer Konflikte heißt im Klartext, dass statt fundierter Kritik an den Verbrechen des Kapitals (das heißt der Investoren, Manager und Aufsichtsräte) zu üben, es vorzuziehen, die sich anstauende Wut der Verlierer auf Juden und Fremde (Ausländer, Flüchtlinge, Vertriebene, aber auch Linke, die diesen beistehen) zu lenken, und auf das politische und kulturelle Establishment, dass diese "Volksschädlinge" nicht entschieden genug bekämpft.
Schlussbemerkung
Eine letzte Bemerkung. Ich weiß sehr wohl, dass das Internet das Medium der Eiligen ist. Aber es wird doch viel unnötige Zeit damit zugebracht, ja verschwendet, blindlings herumzuserven, sich von Events und erfundenen Horrorgeschichten, auch von Tratsch und Gerüchten in wohligen Schauern einnebeln zu lassen. Diese Zeit kann man auch nutzen, sich einmal etwas gründlicher mit diesem für jeden Einzelnen wichtigen und auch äußerst spannenden, nicht zuletzt allen, auch einem selbst nützlichen Thema "Wirtschafts-verbrechen" zu befassen. Wer es also geschafft hat, diesen Text bis hierher zu lesen, dem danke und gratuliere ich. Wer diese Anstrengung hinter sich gebracht hat, sollte sich nun (oder später) auch noch die Zeit nehmen und meine „Einführung“ in den Problemkomplex lesen.
Man findet diese Einführung unter dem Menü „Theorien“. Wer sie liest, wird feststellen, dass es der Mühe lohnt, sich tiefergehend und dauerhafter auf dieses komplexe Thema einzulassen. Sich mit Wirtschafts-verbrechen zu befassen, heißt, Vieles ganz anders zu sehen und auch besser zu verstehen, als es uns von Konzernchefs und ihren Sprachrohren, meist wirtschaftshörigen Beratern, Politikern und Publizisten, aber auch am Tropf der Konzerne hängenden Wissenschaftlern und Journalisten sowie professionellen Agenten der kapitalistischen Meinungs- und Kulturindustrie, immer und immer wieder erklärt wird. Wenn sich Aktivisten der verschiedenen Nichtregierungsorganisationen, alten und neuen sozialen Bewegungen auf diesen Versuch einer "Dritten Aufklärung" einlassen, wächst die Wahrscheinlichkeit, das sie ihren Zielen näher kommen, um ein Vielfaches. HS
Liebe Leserinnen und Leser – eine wichtige Information!
Heute mache ich Sie/Euch, soweit Ihr in und im Umkreis von Frankfurt am Main wohnt, auf eine Veranstaltung der Bürger- und Menschenrechtsorganisation BCC (Business Crime Control e.V.) aufmerksam. Sie findet am 9. November von 13 – 16 Uhr im Karmeliterkloster in Frankfurt statt.
Dem Verein ist es gelungen, die derzeit bekannteste Steuerfahnderin der Bundesrepublik, Anne Brorhilker, zu der jährlich stattfindenden Fachtagung als Referentin zu gewinnen. Sie ist, wie vorher zum Beispiel die Staatsanwältin Margrit Lichtinghagen, die den als Steuerbetrüger überführten Postchef Klaus Zumwinkel verhaftete, bei ihrer Arbeit nicht nur auf Zustimmung gestoßen, und musste ihre Erfolge teuer bezahlen. Lichtinghagen wurde regelrecht aus ihrem Amt gemobbt. (siehe den Bericht unter www.emma.de (vom 1. März 2009).
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Ich wurde damals seitens eines namhaften investigativen Journalisten, der sich am Mobbing gegen Lichtinghagen beteiligt hatte, per Anruf unter Druck zu setzen versucht. Er warnte mich, die Laudatio auf die Staatsanwältin zu halten, worum ich anläßlich der Preisverleihung an Frau Lichtinghagen von der Solbach-Freise-Stiftung gebeten worden war. Dieses unverschämte Ansinnen habe ich strikt zurückgewiesen und mich bei der Leitung der Süddeutschen gegen diesen Angriff auf meine Redefreiheit durch einen ihrer Journalisten beschwert. Folgen hatte das keine.
Der zweite Fall, mit dem BCC konfrontiert wurde, war der des Umwelt-Staatsanwalts Dr. Erich Schöndorf. Schöndorf, der nach meiner zweiten Amtszeit als BCC-Vorsitzender mein Nachfolger wurde, hatte sein Amt als Staatsanwalt niedergelegt, nachdem er in jahrelanger Kleinarbeit den Holzschutzmittel-Skandal aufgedeckt hatte, am Ende aber Gerichte seine Erfolge zunichte machten. Er verließ die Staatsanwaltschaft und wurde Professor für Umweltrecht an der Fachhochschule Frankfurt. Hier lernte ich ihn kennen und schätzen. In diesem Jahr starb er. Mein Nachruf wurde als Newsletter verschickt und ist noch auf meiner Website zu finden.
Nun hat sich wieder ein ähnlicher Fall ereignet. Die Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, eine allzu erfolgreiche Steuerfahnderin, hat resigniert hingeworfen. Ihre Interviews deuten alle darauf hin, dass auch sie in Ihrer Arbeit – um es politisch korrekt auszudrücken – zu wenig Rückhalt bei ihren Vorgesetzten und in der Politik fand. Sie wechselte deshalb zur „Finanzwende“, einer NGO, die sich als Bürgerbewegung und als Gegengewicht zur Finanzlobby versteht. In einem meiner Newsletter (NR.10) unter der Überschrift „Nachdenken über demokratisch legalisiertes Unrecht (von 14.04.2024) habe ich das Buch „Austeilende Ungerechtigkeit – Wie die Wohlhabenden sich am Steuerstaat bereichern“, rezensiert. Auf www.wirtschaftsverbrechen.de ist nachzulesen, was ich über Steuer-Unrecht geschrieben habe. Erwähnenswert, dass sich der Autor stark auf die Arbeit von „Finanzwende“ stützt.
Ich empfehle Ihnen/Dir also den Besuch dieser sicher sehr spannenden und auch demokratie- und gesellschaftspolitisch lehrreichen Veranstaltung. Es geht, vereinfacht ausgedrückt, um große Steuerkriminalität, also um Steuerkriminalität der Großen. Das aber heißt, es geht um die Probleme und Schwierigkeiten, diese Verbrechen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen zu bekämpfen. Hier liegen aber auch die wichtigen Hintergründe der ständig beklagten Geldnot des Staates, nicht nur in der von für viele angeblich nach allen Seiten offenen FDP zum Dogma erhobenen Schuldenbremse. Es genügt eben nicht, Sozialkosten abzubauen, es müssen auch die Steuern von denen eingetrieben werden, die den Staat gern als Räuberbande und Geldverschwender denunzieren, um ihren kriminellen Steuerbetrügereinen eine moralische Legitimation zu verschaffen.
Und hier die offizielle Einladung:
Friedrich-Martin Balzer: Berufsverbot in der Kirche. Der unerledigte Fall Erwin Eckert. PapyRossa Verlag Köln 2023. 292 Seiten. Preis 20 €
Über gottgläubige Kirchen- und Verfassungsfeinde
Essay über ein überlebenswichtiges Buch, gewidmet Daniela Dahn zu ihrem 75 Geburtstag
Kann ein Christ Kommunist sein?
Seit nahezu 60 Jahren erforscht Friedrich-Martin Balzer Leben, Werk und Wirkungen Erwin Eckerts. Und er kämpft um dessen Rehabilitation. Das aber heißt: Balzers Forschungsgegenstand umfasst in erster Linie die theologischen, politisch-weltanschaulichen und kirchenrechtlichen Kontroversen, die um den 1931 – offenbar widerrechtlich – aus seinem Pfarramt entlassenen gottgläubigen Kommunisten, Kirchenkritiker und „Verfassungsfeind“ entbrannten und noch immer nicht ganz ausgestanden sind.
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Kernfrage des Falles Eckert, in Wirklichkeit ein Fall Evangelische Kirche, ist bis heute hoch brisant: Darf ein gläubiger Christ, dazu noch Pfarrer einer Amtskirche, Mitglied einer kommunistischen Partei werden? Die Kirche, deren Theologen, Juristen, Politiker und medialen Sprachrohre sagten vor und nach Hitler: Nein! Die Parteiführungen von KPD und DKP sowie Christen, die ihren Glauben überzeugter ohne Kirche und Parteien leben konnten, beantworteten diese Frage vor und nach Hitler immer mit einem eindeutigen Ja!
Das Nein will allerdings nicht ins vorherrschende Bild vom abendländischen Christentum passen, das doch so überzeugend die Notwendigkeit der Nächstenliebe predigt, ja sogar seine Feinde zu lieben gebietet, wenn kirchliche Obrigkeiten Menschen und menschliche Ideale bekämpfen, die gegen die von Ihnen mit zu verantwortende „kannibalische Weltordnung“ (Jean Ziegler) gerichtet ist, und das hieß auch, gegen den Kapitalismus eine höhere Form der Nächstenliebe, die sie internationale Solidarität nennen, nicht nur zu predigen, sondern auch zu praktizieren.
Damit das funktioniert, müssen Christen gerechterweise zuerst gegen ungerechte friedensfeindliche Kirchenpolitik kämpfen. Deshalb, aber auch angesichts der grauenhaften Missions-, Inquisitions-, Folter- und Hexenverbrennungsgeschichte dieser Kirchen in den letzten 1000 Jahren, sollte sozialistischen und kommunistischen Parteien, die kirchenfeindlich sind, diese Feindschaft nicht auch noch als Beweis ihrer Gottlosigkeit angelastet werden.
Es ist kein Geheimnis, dass viele Kommunistenführer (zum Beispiel Stalin und Pol Pot, die als die grausamsten weltweit bekannt sind) in ihrer Kindheit und Jugend eine strenge christliche Erziehung erfahren haben. Müsste man nicht gesicherte Erkenntnisse der Sozialisationstheorie widerlegen, um sich nicht mehr darüber zu wundern? Diese Produkte einer fürchterlichen christlichen Sozialisation mussten doch glauben, um gegen Ideologie und Praxis ihre eigenen Ideale erfolgreich durchsetzen zu können, sei es nicht nur legitim, sondern geradezu zwingend, auch die grausamsten der christlichen Methoden anzuwenden.
Dass sie das taten, und was sie alles an Verbrechen begingen, kann kein vernünftiger Mensch wirklich rechtfertigen oder gar entschuldigen. Aber es gehört dennoch – wie die Verbrechen der christlichen Gottesstaaten des Mittelalters und der christlich-kapitalistischen Demokratien der Neuzeit zur wahrheitsgetreuen Erklärung des zutiefst gestörten Verhältnisses von Kirchen und Kommunisten. Der Befreiungstheologe Ernesto Cardenal, sagte, er sei mit dem Theologen José Porfirio Miranda einverstanden, für den es „ein totaler Unsinn des Christentums gewesen sei, aus dem Marxismus seinen Hauptfeind gemacht zu haben, wo doch Marx das ‚christliche Projekt par excellence‘ entwickelt hat.“ Kommunismus als das „christliche Projekt par excellence“?
Eckert der erste Befreiiungstheologe?
Ich frage: Wo bleibt die freiheitlich-demokratische Sozialwissenschaft, wo die dialektische Theologie, die dem Gedanken, der Kommunismus sei ein herausragendes christliches Projekt, der – im Blick zurück – Erwin Eckert als den ersten Befreiungstheologen ausweist, einmal auf den Grund geht? Darauf hat Balzer schon in einem grandiosen Plädoyer für Eckert unter der Überschrift: „Wider die falschen Götter im Himmel und auf Erden – Erinnerungen an den deutschen Befreiungstheologen Erwin Eckert verwiesen.“ (In: „Prüfe alles, das Gute behaltet“ – Pahl-Rugenstein 2010, S.332-343). Balzer fühlte sich – zustimmend - „provoziert durch die theoretischen Überlegungen von Franz Hinkelammert“, der auf einem Kongress der Marx-Engels-Stiftung 2010 in Münster unter der Überschrift: „Falsche Götter: Religioskritik als Kapitalismuskritik“ über die Befreiungstheologie einen Vortrag gehalten hatte. Ich halte die Replik Balzers auf diesen Vortrag für das Beste, das er je über Eckerts Leben geschrieben hat.
Es genügt weder zur Rechtfertigung noch zur Widerlegung des kirchenchristlichen Antikommunismus, auf die fürchterlichen Verbrechen Stalins und Pol Pots zu verweisen. Denn diese und viele ebenfalls durch schwerste Verbrechen berüchtigte Kommunisten haben in ihrer Kindheit und Jugend eine strenge christliche „Sozialisation“ genossen. Dabei wurden ihnen Werte vermittelt, von denen die meisten menschlicher und praktischer in der marxistischen Arbeiterbewegung als in der Kirche gelebt werden konnten. Aber durch die christliche Prügelpädagogik (Kurzfassung: „Wer seine Kinder liebt, züchtigt sie“) haben viele zu kirchenfeindlich-revolutionären Kommunisten erzogene Christen wohl auch jenen radikalen Fundamentalismus entwickelt, den sie gegen Kirchen, Kapital und imperialistische Kriege, den erklärten Hauptfeinden sozialistischer und kommunistischer Theorie und Praxis, oft in erschreckender Brutalität, an den Tag legten. Warum also sollten kirchentreue Bauern, Handwerker, Kleinbürger, Knechte und Dienstboten, deren Vorfahren Hexenverbrennungen bejubelten, nicht auch den Antikommunismus ihrer Oberhirten unterstützen? Sie liebten ihre Traditionen. Die von allen Wissenschaftsdisziplinen, auch der marxistischen, sträflich ignorierte „Macht der Gewohnheit“, auf die sich eine fast 2000 Jahre alte Kirche stützen konnte, hat schließlich den Sieg im weltgeschichtlichen Ringen, davongetragen. Aber war damit das „Ende der Geschichte“ eingeläutet?
Wer den Kommunismus Erwin Eckerts studiert, den Balzer als „Jahrhundertmensch“ charakterisiert und dessen „Reden und Texte“ er 2021 in einem zweibändigen Werk im Neue Impulse Verlag herausgab, lernt einen anderen Kommunismus kennen. Eckert dreht den Spieß nicht einfach um, verteufelt seine Kirche nicht, antwortet auf die Verteufelung des Kommunismus meist sachlich, manchmal auch mit Ironie. Und er widerspricht entschieden der ihm immer wieder gemachten Vorhaltung, er wolle in Deutschland den Stalinismus einführen. Seine Antwort, jedes Land habe seine eigenen Voraussetzungen, seine eigene Geschichte, die dies nach seiner Meinung unmöglich machten, wurde kapitaltreu und christdemokratisch verlacht.
Wer eine kirchenchristliche Sozialisation, man müsste ehrlicherweise sagen „Indoktrination“, durchlaufen hat und dabei nicht völlig blind für die Realität geworden ist, weiß, dass die Kirchen sich zwar als Kirchen der Armen verstehen. Er weiß auch, dass gläubige Christen viel für die Armen, Kranken und Hilfsbedürftigen tun. Aber er weiß auch, dass sie nichts gegen die Armut unternehmen. Der zentrale kommunistische Kritikpunkt an den Kirchen besteht deshalb darin, nicht konsequent die Ursachen der Armut (also die kapitalistischen Arbeitsverhältnisse, die nach Marx nun einmal Ausbeutungs- also Klassenverhältnisse sind) zu bekämpfen. Nach dem nahezu totalen Sieg der christlich-kapitalistischen Internationale über den internationalistischen „Weltkommunismus“ werden nun wieder verstärkt die Juden bekämpft, wofür freilich nicht der internationalistische Sozialismus taugt, den ja angeblich die Juden erfunden haben, auch wenn neuerdings beharrlich versucht wird, einen linken Antisemitismus als relevanten Geschichtsfaktor nachzuweisen.
Damit hat der völkisch-nationalistische „Sozialismus“, den der Berliner Hofprediger und evangelische Theologe Kaiser Wilhelms II., Adolf Stoecker, erstmals parteichristlich organisierte in Hitler, der die Massen mit seinem extrem rechten nationalistischen Pseudosozialismus gegen das internationale Judentum zu mobilisieren vermochte, seinen entschlossensten Erben gefunden. Dass nun das von seinem kruden Antisemitismus befreite christliche Bildungs- und Besitzbürgertum, vor allem deren Parteien, dem Besiegten „jüdischen Bolschewismus“, der nicht die Juden, sondern ihren Zionismus als besondere Form des Kolonialismus bzw. Imperialismus bekämpfte, für den nach Gründung Israels entstandenen Hass der Palästinenser auf diesen ihnen von außen aufgedrückten Staat Israel und seine an den alten Kolonialismus erinnernde Politik im Nahen Osten verantwortlich zu machen versucht, beweist, dass die historischen Weichen schon wieder in Richtung Ausgrenzung (Vorwurf: Arabischer Anisemtismus) und damit weiterhin in Richtung Krieg bis zu einer "Endlösung" gestellt werden.
Über das Erlernen eines alternatives Christentums
Vor diesem Hintergrund erweist sich Erwin Eckerts ganz persönliche Geschichte, auf die sich Balzer konzentriert und die er nachvollziehbar darlegt, als überzeugender Gegenentwurf. Balzer zeigt, wie dieser Mensch über seine christliche, in diesem Fall protestantische, Sozialisation durch schmerzliche Lernprozesse (Erster Weltkrieg, Zusammenbruch des Kaiserreichs, Kämpfe für und gegen die Weimarer Demokratie, zunächst als Sozialdemokrat) zum Kommunisten mutiert. Und dies, weil er zu der fatalen Erkenntnis gelangte und schließlich zutiefst davon überzeugt war, dass die Oberhirten seiner Kirche nicht wirklich auf der Seite der Armen, der ausgebeuteten Arbeiterklasse, stehen, sondern selbst Teil der ausbeuterischen herrschenden Klassen sind.
Wer die „soziale Frage“ so ernst nimmt wie Eckert sie nahm, darf nicht nur, er muss auf den Gedanken kommen, Jesus, wenn er überhaupt eine reale historische Person war, sei doch eher ein früher Vorläufer des Sozialismus bzw. eines Urkommunismus, ein Sozialrevolutionär, als ein Freund und Verteidiger des Feudalismus oder gar des Kapitalismus gewesen. Aber war dieser Jesus – der angeblich jede Gewalt ablehnte, der abriet, zum Schwert zu greifen, nicht trotzdem ein Klassenkämpfer? Vieles spricht dafür. Vor allem, dass er Wuchergeschäfte ablehnte, Händler und Geldwechsler, also die damaligen Banker, natürlich nicht mit dem todbringenden Schwert, sondern nur mit einer selbst gefertigten Peitsche, aus dem Tempel jagte und nicht den Reichen, sondern den Armen den himmlischen Frieden versprach.
Wenn die christlichen Kirchen mit ihrem fundamentalistischen Antikommunismus Restposten des mittelalterlichen Feudalismus, Kapitalisten und Faschisten unterstützen, und es tatsächlich die „gottlosen“ und „kirchenfeindlichen“ Parteien sind, die für und mit den Armen den Klassenkampf gegen ihre Herrscher und Ausbeuter organisieren und führen, ja sogar sozialistische Revolutionen und Enteignungen von Produktionsmittelm für notwendig halten, weil die herrschenden Klassen mit Gewalt ihr Ausbeutersystem mit dem Privateigentum verteidigen, dann, so kann man Eckerts Argument zu seiner Entscheidung, der KPD beizutreten, lesen, sei das nichts als die einzig mögliche Antwort auf die unchristliche Politik der traditionsdeformierten inquisitorischen Oberchristen der Weimarer Zeit.
Es ist zweifellos ein großer Fortschritt des Christentums, dass es keine Hexen- und Ketzerverbrennungen mehr kennt, aber Eckert sah es als nicht weniger unchristlich an, dass die Kirchen den Faschisten, die schon lange vor Hitler, sogar gestützt auf Luther, Juden- und Kommunistenhass verbreiteten und den Nazis, die auch schon vor ihrer so genannten „Machtergreifung“, die physische Vernichtung der Juden und des jüdischen Bolschewismus propagierten, zur Macht verhalfen. Tatsächlich haben die Kirchen der Mehrheit der braven, naiven christlichen, liberalen und sozialen Demokraten weismachen können, der Kommunismus sei das Werk des „Satans“. Von dem müsse, weil es kein anderer wage, Hitler die Menschheit befreien. Das kann man doch, auch wenn Eckert diesen Ausdruck nicht benutzt zu haben scheint und Balzer ihn ebenfalls nicht verwendet, als rassistisch begründeten kirchenpolitischen Exorzismus bezeichnen.
Kein Antikommunismus ohne Antisemtismus
Das Buch „Berufsverbot in der Kirche“, das Ende 2023 erschien, kann ich jedem, den solche Fragen bewegen, zur Lektüre, ja zum gründlichen Studium, empfehlen. Einmal, weil es, obwohl nur mittelbar, aber gerade deshalb hochaktuell ist. Denn es durchleuchtet am konkreten Fall des zunächst sozialistischen, dann kommunistischen Christen Erwin Eckert die systematische Zerstörung der Weimarer Demokratie. Damals spielte der auch heute wieder um sich greifende demagogische und Gewalt generierende Judenhass, der sich bei genauerem Hinsehen als eine spezifizierte Art der Fremdenfeindlichkeit erweist, eine zentrale Rolle. Die überwiegend reaktionären und demokratiefeindlichen Kirchen- und Parteichristen waren ganz selbstverständlich Antisemiten. Ihre heute – durchaus glaubhaft – verinnerlichte Judenfreundschaft, ihr Philosemitismus, wurde ihren Großvätern und Vätern und nach 1945 von den Siegermächten verordnet. Schon vergessen?
Doch ihren Antikommunismus, der bis dahin untrennbar mit ihrem Antisemitismus verbunden war, durften, ja mussten sie nach dem Bruch der Anti-Hitler-Koalition und mit Beginn des Kalten Krieges beibehalten. Er wurde weiterhin gebraucht, weil man ja zunächst gemeinsam mit Stalin das „falsche Schwein“ geschlachtet hatte, nun aber das richtige geschlachtet werden sollte. Das hieß Verzicht auf ihren Antisemitismus, das war eine der Bedingungen, die die besiegten Nazis in den Westzonen zu erfüllen hatten und brav erfüllt haben. Der Judenhass spielte aber bis 1945 für die christlichen Kirchen fast dieselbe Rolle, wie heute die nicht mehr von den Kirchenleitungen, dafür aber von vielen rechtskonservativen und reaktionären Parteichristen geschürte Islamfeindlichkeit. Wer sie nicht teilt, gilt schon als Antisemit. Wer damals den Antisemitismus nicht teilte, galt schon als Kommunist. Man lese nur den Aufsatz eines Paul Hoecke, der in einem 1938 unter der Überschrift „Über den Scheinkampf gegen den Bolschewismus“ (in: Wulf Bley, Bolschewismus und Judentum (Reprint-Bibliothek, Burg, 2004) veröffentlicht wurde. In diesem wird den mit den Liberalen paktierenden Kirchen unterstellt, kommunistisch unterwandert zu sein.
Der fremdenfeindliche Teil des christlichen Konservatismus und Antikommunismus neigt allzu leichtfertig dazu, Muslime pauschal für kriminell zu halten, sogar des islamistischen Terrorismus zu verdächtigen, auch militante Antisemiten zu sein. Tun sie das, um Flüchtlinge guten Gewissens in Wüsten verdursten, im Mittelmeer ertrinken oder von der Grenzpolizei in irgendein Getto Afrikas abschieben lassen zu können? Auch hier zeigt sich in den Kirchen, zum Beispiel in ihrem Asylangebot, ein erfreulicher, aber mit dem Holocaust allzu teuer bezahlter Fortschritt. Die meisten Kirchenleitungen, das muss an dieser Stelle unbedingt anerkennend betont werden, machen diese parteichristliche Abschiebepolitik nicht mehr widerspruchslos mit.
Die von Balzer geschilderten Ereignisse um den Fall Eckert heben noch einmal ins öffentliche Bewusstsein, dass es sich dabei um einen der zahllosen unerledigten Altfälle kirchenchristlicher „Todsünden“ handelt, die vom tiefen Mittelalter bis in unsere Gegenwart hineinragen und noch immer fatale Wirkungen entfalten. Es finden sich in diesem Buch eine Fülle von Zitaten und Dokumenten, die beweisen, dass selbst die vergleichsweise harmlosen Berufsverbote weit mehr sind als Schicksale betroffener Personen und ihrer Familien. Sie sind immer auch Warnsignale, die eine verhängnisvolle gesellschaftliche Entwicklung anzeigen. Wir erkennen sie als Vorläufer von Parteienzersplitterungen, „Brandmauern“ und einer Politik der „roten Linien“ gegen Linke, an denen oft völlig irrational, dogmatisch, also auch demokratiegefährdend, festgehalten wird. Ob die Brandmauern gegen die AfD halten, muss sich erst noch zeigen. Das hängt am Ende davon ab, ob die Fraktionen des christlich-prokapitalistischen Lagers endlich ihren verhängnisvollen Antikommunismus – wie einst die Hexenverbrennung – auf den Trümmerhaufen ihrer Geschichte werfen.
Wir erleben 2024 in Thüringen, wie längst domestizierte, in die kapitalistische Welt voll integrierte Sozialisten und Kommunisten als Koalitionspartner sich christlich nennender Parteien auf keinen Fall infrage kommen, selbst dann nicht, wenn es darum geht, die aus den Landtagswahlen als stärkste Partei hervorgegangene neofaschistische AfD auszubremsen. Parteichristen erweisen sich als die wahren Dogmatiker. Es ist ihre Überzeugung, man könne aus der Geschichte nichts lernen. Ich empfehle das Buch Balzers aber nicht nur aus diesem Grund. Es gibt für mich noch einen ebenso wichtigen anderen. Balzer deutet in seinem Vorwort an, dass es „so etwas wie die Krönung“ seines Forscherlebens ist. Erste Ergebnisse wurden in der 1972 abgeschlossenen und dreimal aufgelegten Dissertation Balzers mit einem nach wie vor lehrreichen Vorwort Wolfgang Abendroths einem breiteren Publikum bekannt. Abendroth verwies darin auf das Verschweigen, Verfälschen und Verdrängen innerkirchlicher demokratischer und revolutionärer Tendenzen durch die deutsche Kirchen- und Religionsgeschichtsschreibung, an der auch Balzers Dissertation und seine übrigen Veröffentlichungen und Reden zum Fall Eckert bis heute nicht wirklich etwas änderte.
Das hinderte Balzer nicht daran, die vielen Ansätze eines theologischen, amtskirchlich weitgehend mitvollzogenen Gesinnungswandels, nämlich einer deutlichen Abkehr von völkischem Nationalismus, Antisemitismus und Rassismus, wie Hanfried Müller schon 1991 in seiner Rezension des Balzer-Buches „Gegen den Strom“ bemerkte, zu würdigen. Und dies „immer aufgeschlossener, je später die Aufsätze (und ich füge hinzu, auch dieses Buchs – HS) entstanden sind“. (Siehe „Anstöße, Erträge, Spiegelungen – Ein Lesebuch von und für Friedrich-Martin Balzer, Hrsg. Manfred Weißbecker, Marburg 2015, S.349ff.)
Glaube, Wissen und Parteilichkeit
Es war kein geringerer als Wolfgang Abendroth, der bis 1972 an der Uni Marburg lehrende, lange Zeit einzige westdeutsche marxistische Politikwissenschaftler auf einem Lehrstuhl, und nicht etwa, was ja auch denkbar, zumindest naheliegend gewesen wäre, ein namhafter Marburger Theologieprofessor, der dem damals schon friedenspolitisch engagierten Pfarrersohn Friedrich-Martin Balzer um die Mitte der 1960er Jahre empfahl, seine Dissertation über den 1931 als Pazifist und Antifaschist in die „gottlose“ KPD eingetretenen evangelischen Pfarrer Eckert zu schreiben. Die „Doktorarbeit“ erschien unter dem Titel: „Klassengegensätze in der Kirche – Erwin Eckert und der Bund der Religiösen Sozialisten.“ Schon in seinem eigenen damaligen Vorwort hatte Balzer angekündigt: „Ein großer Teil des zusammengetragenen Materials bleibt einer späteren Auswertung vorbehalten.“ Diese „Auswertung“ wurde sein Lebenswerk.
Balzer hat mit der äußerst arbeitsintensiven Rettung des historisch wertvollen Vermächtnisses von Erwin Eckert nicht nur diesem und seinen ihm nahestehenden Freunden, sondern – mit Recht sehr selbstbewusst – auch sich ein Denkmal gesetzt. In dem hier rezensierten Buch zitiert der Autor noch einmal ausführlich fast alle zum Verstehen des Falles wichtigen Textstellen seiner bisherigen Publikationen, referiert zum x-ten Mal zentrale Stellungnahmen von Anwälten und Gutachtern (namhaften Theologen, Philosophen, Juristen, Historikern) dieses – nicht nur aus seiner Sicht – „unerledigten Falles“. In diesem – vermutlich letzten – Buch über den noch immer unerledigten Fall Eckert, konzentriert Balzer sich noch einmal, und viel konsequenter als in vielen seiner früheren Schriften, auf den „Fall Eckert“.
Deshalb werden viele Themen, die heutige Leserinnen und Leser bei dieser Lektüre unwillkürlich mitdenken, vielleicht sogar erwarten, dass sie thematisiert und problematisiert werden, wenn überhaupt, allenfalls am Rande erwähnt oder in dem umfangreichen Anmerkungsapparat verbannt. Es werden in drei großen Abschnitten mit den Überschriften „ I. Der politisch-historische Hintergrund“ seiner Amtsenthebung, „ II. Theologische und rechtliche Gründe für die Wiederaufnahme des Dienststrafverfahrens“ und schließlich „III. Erwin Eckert: Reformator und Revolutionär zugleich“ alle aus Balzers Sicht wichtigen theologischen und politischen Äußerungen Eckerts, Passagen aus seinen Predigten, Veröffentlichungen, Referaten und Reden, die ihn als unbeirrbaren Warner vor Hitler, mutigen Widerstandskämpfer und kapitalismuskritischen Friedenspolitiker ausweisen, hieb- und stichfest dokumentiert.
Eindringlich ruft der Autor noch einmal Eckerts bittere Erfahrungen der Zeit vor 1933 und der Naziherrschaft bis 1945 in Erinnerung. Gründlich belegt wird die heute kaum noch vorstellbare Geschichte seiner Verfolgung, werden die fatalen Begründungen seiner Entlassung, seine Einkerkerung durch Nazis, sein lückenlos überwachtes, aber glückliches Überleben und die hoffnungsvoll beginnende Zeit nach der opferreichen Befreiung vom Faschismus nachgezeichnet. Aber eben so eindringlich vermittelt das Buch, wie durch den Kalten Krieg sogleich eine weitere Phase der Diskriminierung und Kriminalisierung der politischen Linken beginnt. Einer der Gipfelpunkte war das 1956 verhängte KPD-Verbot, das Eckert das Landtagsmandat kostete. Aber das reichte nicht: 1959/60 folgte Eckerts Verurteilung zu einer 9monatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen „Rädelsführerschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation“, nämlich des westdeutschen Friedenskomitees, dessen amtierender Vorsitzender er seit 1952 war. Die Verfassungsbeschwerde wurde abgelehnt.
Die Teilung Deutschlands, die Wiederaufrüstung und Westintegration, die 1956 mit dem erneuten KPD-Verbot auch strafrechtlich als „nicht verhandelbar“ ausgewiesen wurden, und dies unter der Fuchtel einer westdeutschen Justiz, die noch derart stark von ehemaligen Nazi-Juristen durchsetzt war, dass sogar die DDR-Diktatoren die BRD glaubhaft als „Unrechtsstaat“ bezeichnen konnten. (Dazu: Im Namen des Deutschen Volkes - Justiz und Nationalsozialismus. Katalog zur Ausstellung des Bundesministers der Justiz,Köln 1989). Diesen Themenkomplex behandelte Balzer hinreichend in den vergangenen Jahrzehnten in vielen anderen einschlägigen Publikationen. So muss man – auch wenn es bedauerlich ist – hinnehmen, dass er sich hier aus guten Gründen auf den „unerledigten Fall Eckert“ beschränkt. Diesen darf man dennoch als Fall betrachten, durch dessen Studium sich die deutsche Geschichte der Zeiten nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg weit besser verstehen lassen als durch die zwar anerkennenswerte, aber doch längst ritualisierte und allzu sehr auf den Holocaust reduzierte, viele andere Opfergruppen vernachlässigende Erinnerungskultur. In dieser kommen zum Beispiel die kommunistischen Juden und Christen, die zu den ausgesuchten Zielgruppen des Naziterrors gehörten, man darf sagen, so gut wie überhaupt nicht vor.
Wenn man Balzers Lebenswerk in Gänze als Fortsetzung des Kampfes Eckerts über dessen Tod (1972) hinaus betrachtet, wogegen er sicher nichts einzuwenden hätte, wird man feststellen, dass sich die darin verhandelten Probleme (Rüstung, Krieg, Verteufelung der Friedensbewegung), seit dem totalen Sieg des christlich-demokratischen Kapitalismus über den gottlosen Kommunismus wieder verstärkt haben. Sogar ein Dritter Weltkrieg wird nicht mehr ausgeschlossen – nicht mehr von Pazifisten, aber auch nicht mehr von den bisher noch zögerlichen Bellizisten. Wichtig zu wissen ist, dass Balzer schon von Anfang an mehr war als ein neutraler Dokumentarist, Chronist, Analyst und Berichterstatter. Er bezog immer eindeutig Stellung, zeigte Flagge, wurde Eckerts Staranwalt. Bis heute vertritt er entschieden die Interessen seines „Mandanten“, den er übrigens noch persönlich kennenlernen durfte und mit dessen Familie er über Eckerts Tod hinaus freundschaftlich verbunden blieb. Kann man dem Marxisten und Eckert-Anwalt Balzer vorwerfen, „ideologische Scheuklappen“ zu tragen, „wissenschaftlich nicht sauber“ zu arbeiten? (So A. Boyens in: Das politische Buch, 2/1974 über Balzers Dissertation.) Ja, mit dem Weltbild eines studierten Antikommunisten kann man das, ja muss man es.
Balzer ist ein marxistischer Sozialwissenschaftler, also aus Sicht der damaligen Kalten Krieger einseitig, wenn nicht gar ein Feind der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Aber man wird ja hoffentlich noch fragen dürfen, welcher Theologe, welcher bürgerliche Historiker, welcher Anwalt keine Scheuklappen trägt? Keiner von ihnen arbeitet aus Sicht eines Marxisten „wissenschaftlich sauber“. Wer also könnte den zu Unrecht gefeuerten Pfarrer Eckert gegenüber einer zutiefst antikommunistischen Kirche besser, sauberer, objektiver vertreten als ein bedingungslos auf Eckerts Seite stehender Marxist?
Eckert, der 1931, wie schon oben dargelegt, im Kommunismus mehr Christentum vorfand als in seiner damals hemmungslos den Nazis huldigenden Kirche, hielt als Kommunist sehr überzeugend an seinem Glauben fest. Aber kann man sicher sein, dass eine Kirchenleitung, welcher Kirche auch immer, an ihrem christlichen Glauben überzeugend festzuhalten vermag, wenn Hitler als Messias angebetet wird? Das ist schon – meine ich – beim Glauben an den Kapitalismus völlig ausgeschlossen. Balzer, der in den bewegten Zeiten der 68er Studentenrevolte über einige Umwege zum Marxisten gewordene Pfarrersohn, verlor seinen Glauben. Aber er ergriff dennoch für Eckert Partei.
Balzers Objektivität besteht also darin, dass er Eckerts Glaubensbekenntnis ebenso ernst nimmt wie den Antikommunismus der kirchlichen Gegner des Marxismus. Deren Antisemitismus und deren Begeisterung für Hitler und den Faschismus lässt er, meine ich, um der Forderung nach Objektivität gerecht zu werden, eher zu reichlich als zu wenig zu Wort kommen. Balzer würdigt aber auch ausdrücklich die Erklärungen der Badischen Kirchen-Oberen, in der sie 1993 (zur Erinnerung an den 100. Geburtstag Eckerts) erstmals, 1999 noch einmal öffentlich bedauerten, eine „prophetische Stimme unterdrückt“ und „evangelische Nationalsozialisten“ geduldet zu haben (S.16).
Was wird aus dem friedenpolitischen Erbe?
Dieses kirchliche Schuldeingeständnis, so wichtig es Balzer nach wie vor ist, genügte ihm aber dennoch nicht. Er ist nämlich, wie Eckert es war, auch in der Friedensbewegung engagiert. Daher erwartete er damals, 1999, dass die Kirche im Sinne Eckerts den gerade vom demokratischen Westen begonnenen völkerrechtswidrigen Kosovo-Krieg verurteilt. Das kam aber für die nach wie vor wehrhaft Freiheit und Kapitalismus verteidigenden Staats- und Parteichristen nicht in Frage. Dennoch waren dieses kirchliche Gedenken und das Schuldeingeständnis der Kirche gegenüber Eckert ein bedeutender Wendepunkt.
Sie zeigten neben kirchlicher Reue auch, dass es Balzer nicht nur um finanzielle Wiedergutmachung des Schadens ging und geht, den Eckert und seine Familie erlitten, sondern auch um dessen systemkritisch-friedenspolitisches Erbe. Balzer signalisiert in diesem Buch, dass er – nach dem nahezu totalen, man kann auch sagen globalen Sieg des Antikommunismus – nicht mehr wirklich an eine derart weitgehende Wiedergutmachung glaubt. Denn nur so ist zu verstehen, weshalb er – wenn auch nur in Frageform – die Forderung in den Raum stellt, ob es nicht sinnvoll wäre, mit dem Geld für 40 Jahre vorenthaltener Altersversorgung eine Erwin-Eckert-Stiftung zu gründen.
Eine großartige Idee! Eine Eckert-Stiftung. Sie hätte aber nur dann eine Chance verwirklicht zu werden, wenn diese Aufgabe nicht der Kirche abverlangt würde, die ja auch ein kapitalistisch arbeitendes Wirtschaftsunternehmen ist, wenngleich vom Staat mit dem Privilegien-Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft versehen. Ein solches Friedens-Projekt müsste von einer noch zu organisierenden oder schon vorhandenen kirchen- und parteiunabhängigen und gemeinnützigen Vereinigung in die Hand genommen werden. Balzer sollte die politisch am Fall Eckert und am global bzw. universalistisch aufgefassten Problem des Verhältnisses zwischen „Religion und Wissenschaft“ Interessierten um sich zu versammeln versuchen und mit ihnen die Initiative zur Gründung einer Erwin-Eckert-Stiftung ergreifen. Er müsste dafür nur seinen Namen zur Verfügung stellen. Für die konkrete Organisationsarbeit würden sich sicher angesichts des desolaten Zustandes sowohl der marxistischen organisierten Linken wie des Kirchenchristentums viele junge Leute finden, die sich für ein derart wichtiges Friedens-Projekt engagieren.
Eine solche Initiative könnte Initialzünder zur Entwicklung einer neuen Wissenschaftsdisziplin werden, die, was dringend notwendig wäre, endlich breitenwirksam und frei von Antikommunismus und nachtragender Kirchenfeindlichkeit Ursachen, fehlentwickelte Formen und Folgen der vielfältigen Konflikte zwischen „Christentum und Kommunismus“ sowie deren unübersehbaren gemeinsamen Niedergang mit der Absicht zu erforschen, das kulturelle und humanistische Erbe beider Weltanschauungen zu retten, und die in ihrer gegenseitigen Feindschaft begangenen Verbrechen, das erkannte Unrecht, gewissenhaft zu entsorgen.
Eine solche Stiftung müsste also im Sinne Erwin Eckerts einer Vereinigung beider historisch und aktuell noch immer bedeutsamen Weltanschauungen, als Unterstützung auch für die vielen anderen religiösen Sozialisten und Kommunisten in der Welt, die Gemeinsamkeiten und Vereinbarkeiten von Glauben und Wissenschaft erforschen. Ehrenwerte Forschungsziele wären, gemeinsam begehbare Wege aufzeigen, und zwar so, dass sie geeignet sind, das baldige Ende der verhängnisvollen Geschichte des religiös motivierten Antikommunismus einzuleiten. Denn wer Eckert begreift (man lese die von Balzer edierten Texte und Reden), begreift vor allem, dass der ihn sein Leben lang verfolgende Antikommunismus unvermeidlich zu extremen, auch gewalttätigen und eliminatorischen, Auswüchsen des bürgerlichen Freiheitsbegriffs führt, weil dieser im Denk- und Handlungsschema untrennbar ans Privatkapital, also an die persönliche Existenz gebunden ist und bleibt.
Obgleich Eckert sich sicher bewusst war, dass die Kirchen selbst zu den größten Grundbesitzern und Kapitaleignern gehören, hat er sich mit dieser Seite des Problems so gut wie überhaupt nicht auseinandergesetzt. Es wird auch in diesem Buch, von seitens seines Autors, nicht zum Thema gemacht. Ebenso viele andere Themen nicht, die weit vor Eckerts Zeit auf seinen Konflikt mit der Kirche verweisen, aber auch nicht auf die, die erst nach seinem Tod auf das gesellschaftliche Leben, die Politik, die Fragen von Krieg und Frieden, in außergewöhnlicher Stärke aufgetreten sind.
Eine Erwin-Eckert-Stiftung sollte daher nicht einfach nur Eckerts Nachlass verwalten, sondern auch sein humanistisches Erbe weiter ausgestalten. Sie könnte dessen zukunftsweisendes Vermächtnis (den Antikommunismus der Kirchen zu beenden) konstruktiv weiterentwickeln helfen, indem es die Erforschung der darin enthaltenden Probleme fördert. In welcher Form auch immer. Es sollte vor allem die Erforschung jener Konflikkte und ihrer Lösungsmöglichkeiten gefördert werden, die durch den Zusammenstoß religiöser Überzeugungen, personeller und spiritueller, aber auch institutioneller, also macht- und interessenpolitischer Art, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen entstehen und oft als unvermeidbar dargestellt werden, obgleich sie es gar nicht sind.
Dazu gehören die zwischen Luther und Thomas Münzer, zwischen Galileo Galilei und der römischen Inquisition, die zwischen Lessing und dem Hamburger lutherisch-orthodoxen Hauptpastor Goeze, zwischen den Theologen Küng, Ranke Heinemann, Sölle und ihrer Papstkirche, zwischen den Atomphysikern und ihrem Gewissen, zwischen lateinamerikanischen Befreiungstheologen und ihrem Papst, zwischen Kapitalchristen und den Menschen der ausgebeuteten ehemaligen Kolonien. Vor allem jedoch die zwischen den noch immer brutal ausgebeuteten, durch Ausbeutung an ihrer Entwicklung gehinderten Länder des globalen Südens und den zu Überstaaten angewachsenen, vor keinem Wirtschaftsverbrechen zurückschreckenden, ganze Gesellschaften und ihre Lebensgrundlagen zerstörenenden Wirtschaftspraxis. Diese ruiniert die ökologischen Gleichgewichte, die das Weltklima lebensfeindlich verändern. Christlich gesprochen: Die Bewahrung der Schöpfung ist von ihnen nicht zu erwarten.
Würden diese Themen im Geiste Eckerts erforscht und die gewonnenen Erkenntnisse verständlich und verständnisvoll ausgebreitet, wäre dies ein wichtiger Beitrag zu der Dritten Aufklärung, die ich seit Jahren propagiere. Ich betrachte die Aufklärung im Geiste Kants und der Kantianer als erste, als die bürgerliche Aufklärung. Sie hat, da Kant sie als Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit definierte, alle, die ganze Menschheit angesprochen. Aber verwirklichen konnten sich in diesem Sinne nur die, die wir heute als Bildungs- und Besitzbürger bezeichnen. Sie hatten das Eigentum. Die Massen hatten nur die neue christliche Freiheit, es sich durch ehrliche Arbeit, Fleiß und Sparsamkeit auch zu erwerben. Das war also ein Versprechen, dass die fremdbestimmte Unmündigkeit der eigentumslosen Massen, und auch ihre Not und ihr Elend nicht aufhob, sondern durch Einführung des gnadenlosen Prizips der Konkurrenz, verschärfte.
Als zweite Aufklärung bezeichne ich die sozialistische. Ihr Kerngebiet ist die Kritik der politischen Ökonomie von Marx und die daraus gezogenen Konsequenzen der internationalen Arbeiterbewegung. Man lese nur die herausragenden Bücher von Jean Ziegler (des vormaligen UNO-Beauftragten für das Recht auf Nahrung und für Menschenrechte) der sagt, was auch Eckert genauso hätte ausdrücken können: „Ich bin Kommunist und glaube an Gott.“. Oder die aufschlussreichen Bücher des Armutsforschers Christoph Butterwegge, der gute sozialistische Aufklärung betreibt, aber – zu meinem Bedauern – den immer wirksamer werdenden Bereicherungsfaktor „Wirtschaftsverbrechen“, an denen sich auch die Kirchen als Großgrundbesitzer und Share-Holder skrupellos beteiligen, bisher noch nicht in seine Liste der Verursacher ständig wachsender sozialer Ungleichheit und zu überwindender Hindernisse beim Kampf gegen fremdverschuldete Unmündigkeit aufgenommen hat.
Dies sind Beispiele, die noch zur zweiten, der sozialistischen Aufklärung gehören. Dass auch diese durch gravierende Fehler der Arbeiterparteien scheiterten, wird heute von den zu demokratischen Sozialisten mutierten ehemaligen DDR-Granden zugegeben. Aber den entscheidenden Beitrag zum geballten Widerstand gegen den Versuch, eine kommunistische Wirtschaftsordnung durchzusetzen, und zum Zusammenbruch des Welkommunismus, leisteten die intransigent antikommunistischen Kirchenchristen und die dem Kapitalismus von der organisierten Arbeiterbewegung abgerungene Sozialstaatspolitik, die sich der Kapitalismus dann an seine Fahnen heftete und dies noch immer tut, obgleich seine Systemwächter uns schon darauf vorbereiten, dass es an der Zeit sei, nun die "sozialen Hängematten" abzuschaffen.
Dies alles gehört zu den ausgeblendeten oder nur angedeuteten Problemen, die weder Eckert noch Balzer behandelt haben, aber zum Problem Christentum und Kommunismus gehören, das man ja auch jenseits des konkreten Falles Eckert im Auge behalten muss. Eine Erwin Eckert Stiftung müsste sich diesen vielen noch offenen Fragen widmen. Das wäre ein wichtiger Beitrag zu einer überfälligen dritten Aufklärung, für die ich seit Jahrzehnten, nicht als Kommunist, sondern als demokratischer Sozialist, der vom christlichen Antikommunismus immer mitgemeint ist, werbe. Das Programm einer dritten Aufklärung könnte man mit dem vom Marxisten Friedrich-Martin Balzer für eines seiner Buchtitel ausgewählten Bibelspruch überschreiben: „Prüfet alles, das Gute behaltet!“
Dieser Newsletter erschien zuerst als Beitrag für das diesjährige Sommer-Sonderheft der Zeitschrift „Ossietzky“ (15/26). In dieser ging es um die Fragen „Was ist links? Was ist rechts“. Anlässlich des Todes des VVN-Kreisvorsitzenden (Main-Kinzig) Horst Koch-Panzner und zur ehrenden Erinnerung an diesen unermüdlichen Kampfer der im Deutschen Gewerkschaftsbund organisierten Arbeiterschaft gegen Faschismus und Krieg, habe ich mich entschlossen, diesen Beitrag, leicht überarbeitet, ihm zu widmen.
Er veranlasste im vergangenen Jahr, als ich einen Vortrag in Hanau über die Verantwortlichen hielt, die Hitler zur Macht verhalfen und seine Verbrechen rechtfertigten, dass ich von der VVN-Bund der Antifaschisten als langjähriger Aktivist zum „Ehrenmitglied“ ernannt wurde. Kollege Koch-Panzner gehörte zu jenen, die noch zwischen links und rechts zu unterscheiden wisssen und die Unterschiede auch zu bennennen wagen.
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Seit dem totalen Sieg des kapitalistischen „freien Westens“ über den Ostblock-Kommunismus verliert das traditionelle Navigationssystem – nämlich das bürgerliche Links-Mitte-Rechts-Schema – seinen Gebrauchswert. Es hatte sich bei der Verortung politischer Ansichten, Überzeugungen, Standorte, Weltanschauungen und der spontanen Bewertung politischer Entscheidungen lange Zeit einigermaßen bewährt, scheint aber angesichts der widersprüchlichen historischen Prozesse zunehmend zu versagen. Manche – auch ich – führen diese Verunsicherung auf die Entstehung einer neuen Weltordnung zurück.
Wer aus dem wiedervereinigten „Deutschen Volk“ versteht denn heute, weshalb im Deutschen Bundestag der Staatspräsident des immer noch größten Staates der Erde, der ehemalige KGB-Agent Putin, vor dreiundzwanzig Jahren eine Rede gehalten hat, die dort von denen, die ihn heute mit Waffenlieferungen an die Ukraine bekämpfen, mit stehenden Ovationen bedacht wurde? Und wer von den bundesdeutschen Altlinken hätte sich in seinen verrücktesten Fantasien nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ausdenken können, dass chinesische Kommunisten einmal erfolgreicher als die US-Amerikaner und die Europäer Kapitalismus praktizieren?
Sind die Chinesen nicht dabei, zum „neuen Westen“, nämlich zur führenden kapitalistischen Weltmacht aufzusteigen? Und schicken sie nicht den alten Westen, die Europäische Union und die auch innenpolitisch gegen ihren Niedergang ankämpfende USA, auf die Abwärtsspirale der Geschichte? Ich frage mich: Ist der chinesische Kapitalismus kommunistisch, also links, weil die Regierung in der Tradition von Mao steht und daran mit illiberaler Härte festzuhalten versucht?
Die europäische Linke - auch die, die den Sowjetkommunismus und den Maoismus bekämpfte – wollte sich bekanntlich einen eigenen, westlichen, Weg zum Sozialismus bahnen. Sie geriet jedoch in den Sog der Oktoberrevolution und ist deshalb mit dem Sowjetsystem und dem revolutionären Maoismus untergegangen. Nun sehe ich die Restlinke aufgefordert, das Erbe der großen Geschichte der deutschen und europäischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung zu retten. Den Fall gesetzt, dass es überhaupt noch zu retten ist. Doch die organisierte Linke ist genau damit nicht beschäftigt. Sie macht „linke“, ich sage kleinbürgerliche, Identitätspolitik – jenseits der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung.
Dabei gibt es überall Irritationen, auf die Antworten zu suchen und zu geben wären. Zum Beispiel: Leute, die als seriöse Experten ausgegeben werden, behaupten, Putin sei ein „neuer Hitler“. Da wir wissen, dass Putin seine „Spezialoperation“ gegen die Ukraine damit begründet, die dort gegen Russland agierenden, vom Westen, vor allem den USA, unterstützten „Faschisten“ unschädlich machen zu wollen, also in der Ukraine Faschisten gegen Faschisten kämpfen, haben wir es mit Entwicklungen zu tun, die mit der klassischen Links-Rechts-Bipolarität nicht mehr zu verstehen, nicht mehr plausibel zu erklären sind.
Faschisten verschiedener Nationalismen bekämpfen sich neuerdings gegenseitig - was ja auch im Nahen Osten der Fall ist. Dort versuchen die rechtsterroristisch-islamistische Hamas Israel, und Israels rechtsextreme Regierung Netanjahu, die Hamas zu vernichten. Diese beiden um Eigenstaatlichkeit ringenden „Faschismen“ liefern sich einen derart völker- und menschenrechtswidrigen Krieg, dass sich selbst Konservative in die Zeit des Kalten Krieges zurückzusehnen beginnen.
Könnten sich angesichts dieser mörderischen Auseinandersetzungen zwischen Rechtsextremisten die Linken, zumindest die, die bisher als Antifaschisten vom Verfassungsschutz beobachtet wurden, also staatlich anerkannte Antifaschisten sind, einfach zurücklehnen und warten, bis sich beide Seiten aus der Welt geschafft haben? Ja, das wäre die ideale Lösung.
Aber leider nur theoretisch. Die herrschende Klasse der Kapitaleigner und ihre Heerscharen gelehrter und gut bezahlter Kapitalstrategen nimmt sich ja nicht nur einfach das Recht zu bestimmen, wer linksextrem und wer links, wer rechtsextrem und wer rechts ist, sie nimmt sich auch das Recht, zur Sicherung ihrer Macht, ihrer Herrschaft, ihrer Privilegien, das geltende Recht zu brechen oder, wenn es das Privateigentum nicht hinreichend schützt und unterstützt, in Länder auszuweichen, in dem das, was in Deutschland und der Europäischen Union juristisch als Verbrechen gilt, noch offen und ungeniert staatlich unterstützt wird.
Daher herrscht ein enormer Druck auf unser im Kalten Krieg entwickeltes und im internationalen Vergleich arbeitnehmerfreundliches und wohlfahrtsstaatlich organisiertes, aber auch krankhaft antisozialistisch kontaminiertes Rechtssystem. Die globale Standortkonkurrenz manövriert sozialstaatlich hoch entwickelte kapitalistische Demokratien zunehmend in die Defensive. Sie sind durch garantierte Investitionsfreiheit und straflose Missachtung der Eigentumsverpflichtung durch Kapitalgesellschaften mühelos erpressbar. Das treibt die Lohn- und Gehaltsabhängigen samt Gewerkschaften immer weiter nach rechts, also ins konservative und reaktionäre Lager. Dort machen am Ende die Herrschaften der trotz Mitbestimmung demokratiefreien Chefetagen unter sich aus, welche Art kapitalistischer Staat sich durchsetzt, der autoritäre oder der demokratische.
Diese beiden ideologischen Strömungen sind sich darin einig, dass ein kapitalistischer Staat, auch der demokratisch legitimierte, seine Hauptaufgabe darin zu sehen hat, egal, was sonst passiert, die Demokratisierung der Wirtschaft auf jeden Fall zu verhindern. Wie sich nicht nur 1933 gezeigt hat, gehen diese Herrschaften auch über Berge von Leichen, um die Freiheit der Wirtschaft sicherzustellen.
Der Rechtsstaat, darin sind sich alle bürgerlichen Parteien, CDU/CSU, SPD und FDP mit der AfD einig, und das ist auch die Grundlinie der europäischen Konservativen und Rechten, der Rechtsstaat darf auf keinen Fall ein Linksstaat, auch kein demokratischer Linksstaat, werden. Und die Linke scheint sich diesem Diktum ohne nennenswerten Widerstand unterwerfen zu wollen. Denn was sich da neuerdings angesichts des weltweiten Aufstiegs der Rechten an Linken politisch zurückmeldet, die britische Labour Party oder die neue Volksfront der Franzosen, beziehen ihre „Vernunft“ erkennbar nur noch aus ihrer Notsituation.
Das ist für die notwendige Durchsetzung einer demokratisch-sozialistischen und klimaneutralen Neuordnung der Weltwirtschaft zu wenig. Die stark verunsicherte und weitgehend allein gelassene Arbeiterschaft muss auf einen neuen Westen eingestellt werden.
Das aber heißt, dass die USA nicht länger die Europäische Schutzmacht sein dürfen. Das fordern nicht nur die US-Republikaner, sondern auch die Demokraten der USA seit langem. Denn sie halten die Zeit für überreif, dass Europa sich selber schützt. Es liegt daher nah, sich mit Russland, China und den Brics-Staaten auf eine neue internationale Friedensordnung zu verständigen.
Deutschland und die EU müssen daher sofort aufhören, die Armen statt der Armut, die Migranten, statt der Verursacher und Ursachen der Migration zu bekämpfen. Der harte Kern der großen Weltprobleme ist – abstrakt ausgedrückt – nach wie vor das globale räuberische Kapital. Es ist ja selbst vielen Bürgerlichen schon klar, das es bekämpft werden muss. Aber was tun, wenn die modernen Raubritter in den Chefetagen der seriösen Weltkonzerne sitzen und frei gewählten Regierungen vorschreiben, welche ihrer Wahlversprechen sie erfüllen dürfen, welche nicht.
Es wäre daher richtige linke Politik und würde auch als solche von Wählermehrheiten erkannt und anerkannt, wenn die Eigentumsfrage (GG: Eigentum verpflichtet!) wieder zum zentralen Thema würde. Im Grunde wissen das die Linken. Dieses Wissen gehört – wie man heute sagt – zu Ihrer DNA. Was allerdings fehlt, sind Partei- und Gewerkschaftsführungen, die endlich wieder eine solche linke Politik gegen Mainstream-Medien, kapitalabhängige Wissenschaftler und Burgfriedens-Ideologen nicht nur offen, sondern offensiv vertreten.
Das ist zwar immer noch zu wenig, aber es wäre ein erster wichtiger Schritt in die richtige, in die demokratisch-sozialistische Richtung.
Dieser Newsletter enthält meine für den „Tag der Arbeit“ 2024 verfasste, danach aber noch ergänzte Rede. Denn ich las nicht ab, sondern trug den Inhalt, übrigens im voll besetzten Bürgerhaus im hessischen Mörfelden-Walldorf, frei vor. Dass beim freien Reden neue Gedanken verfertigt werden, ist bekannt. Daher habe ich diese, soweit ich mich an sie erinnern konnte, nachträglich eingefügt. Was im Manuskript stand, konnte ich leider nicht alles referieren. Es ist in diesem Newsletter nachzulesen. Wer diesen Newsletter, den ich aus Anlass der Verfassungstages, der bevorstehenden Europawahlen und der vielen Demokratiefeiern noch nachträglich verbreite, hilfreich findet, darf ihn gern weiterleiten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen
Danke für die Einladung. Sie ist für mich etwas Besonderes, weil ich an diesem Ort schon ein drittes Mal zum „Tag der Arbeit“ als Gastredner sprechen darf. Meist werde ich nach meinen Vorträgen kein zweites Mal eingeladen. Denn die Presse, falls sie überhaupt über Maireden berichtet, disqualifiziert mich gern als „linken Ideologen“.
Wenn es dabei nur um mich ginge, würde ich darin kein Problem sehen. Aber es geht um die Mehrheit der Menschen, die ihre Informationen, große Anteile ihres gesellschaftlichen Wissens und damit auch ihres sozialen Gewissens samt dazugehörigen Handlungsmaximen kaum mehr von aufklärenden Gewerkschaften und Arbeiterparteien, noch seltener von Arbeiterbildungsinstitutionen, sondern über die angeblich „unabhängigen“ Medien bezieht.
Die so genannte „Vierte Gewalt“ ist sehr frei. Sie darf fast alles. Daran sollten wir auch nicht rütteln. Wir sollten uns aber bewusst sein, dass die marktbeherrschenden Zeitungen nicht so unabhängig sind, wie sie in ihren Untertiteln behaupten. Sie sind zwar unabhängig, aber nur vom Staat. Zensur findet nicht statt. Das genügt vielen Arbeitnehmern, die Presse für frei, d. h. für unabhängig zu halten. Die so genannten Mainstream-Medien sind aber total abhängig von privatem Kapital.
Doch hier geht es mir um die politische Bedeutung des 1. Mai. Auch wenn es immer häufiger so aussieht, er ist nicht der Tag des Kapitals, er ist der Tag der Arbeit. Es scheint aber kaum noch jemand zu wissen oder wissen zu wollen: Es war Gewerkchaftsfeind Hitler, nicht Gewerkschaftsfreund Friedrich Ebert, der diesen Tag in den Rang eines bezahlten Feiertags erhoben hat. Die gut organisierte und rechtlich voll anerkannte Interessenvertretung der Arbeit, die für Volks- und Betriebswirte nur ein Produktionsfaktor ist, sind genau aus diesem Erfahrungsgrund die Gewerkschaften. Und hier besonders der historisch in der Tradition der Arbeiterbewegung stehende, an seinen schwierigen Aufgaben oft gescheiterte, aber auch gewachsene Deutsche Gewerkschaftsbund, der DGB.
Unsere Gewerkschaften sind durch viele Erfolge zu hohem Ansehen gelangt. Sie haben allerdings auch, ich erinnere an die "Neue Heimat", immer wieder viel Vertrauen verspielt. Vor allem sollten sie sich nicht um jeden Preis als Ordnungsfaktor der freiheitlich demokratischen Grundordnung beweisen wollen. Viel mehr als in den vergangenen Jahren sollten sie verdeutlichen, dass diese Demokratie auf Dauer nicht vor der ständig wachsenden Konzernmacht geschützt werden kann, wenn sie nicht mit Augenmaß zu einer - ich pflege zu sagen kriminalpräventiven - Wirtschaftsdemokratie weiter entwickelt wird. Würde das gelingen, könnte man bedenkenlos von einem System des demokratischen Sozialismus, einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz sprechen. Doch noch überwiegen trotz freier Wahlen die Stimmen, die an das Heilsversprechen eines christlich-kapitalistischen Sozialdarwinismus glauben.
Die kleineren Konkurrenten des DGB, die so genannten Spartengewerkschaften, schätze ich, weil sie der Gefahr, dass sich die DGB-Gewerkschaften irgendwann vom Kapital völlig vereinnahmen und vor den Karren der Gewinnmaximierer spannen lassen, deutlich spürbar entgegenwirken. Als „Sozialpartner“ und als „Co-Management“ haben sie sich schon fest etabliert. Und nicht nur von gewerkschaftsfeindlichen Kreisen werden sie beschuldigt, für die großen Wirtschaftsverbrechen der vergangenen Jahre, soweit sie von mitbestimmten Unternehmen wie Siemens, der Deutschen Bank, VW, Daimler und BMW (Stichwort Dieselgate) begangen wurden, mitverantwortlich zu sein. Dass sie zu diesen Fällen schweigen, wird ihnen als unfreiwilliges Schuldeingeständnis angekreidet.
Aber reden wir über diesen 1. Mai. Der DGB hat, wie es Tradition ist, auch in diesem Jahr 2024, in dem an unser Grundgesetz und den hohen Stellenwert „unserer“ Demokratie erinnert wird, eine Losung ausgegeben, die drei – für mich auf den ersten Blick erschreckend harmlose – Forderungen enthält: Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit.
Betrachten wir den Lohn. Ich war zwölf Jahre industrieller Lohnarbeiter, Werkzeugmacher. Ich bekam an jedem Freitag eine Tüte mit dem schwer verdienten Geld, für das ich nicht einmal ein Konto benötigte, weil ich keinen Pfennig sparen konnte. Es wurde so ausgegeben, dass es gerade eben reichte. Erst beim Studium der Sozialwissenschaften lernte ich, dass es der im Kalten Krieg offiziell verpönte Karl Marx war, der den Lohn, eigentlich die Lohnarbeit, wissenschaftlich analysierte und diese Studien zur Grundlage der entstehenden, sich als marxistisch verstehenden, deutschen und internationalen Arbeiterbewegung wurden.
Ich setze voraus, dass die wichtigen Erkenntnisse, die Marx der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung lieferte, heute allgemein bekannt sind. Damals, als "freier" Lohnarbeiter mit Volksschulbildung, habe ich fast zwölf Jahre meines Lebens (Zeiten der Arbeitslosigkeit mitgezählt) unter den Bedingungen des Kalten Krieges keine Ahnung gehabt, wie das System, in dem und von dem ich lebte, funktioniert. Und dies, obgleich ich als Lohnarbeiter zugleich aktiver Gewerkschafter, nämlich Jugendvertreter der IG-Metall war. Ich lernte aber praktisch, was Arbeitslosigkeit bedeutet, und habe in verschiedenen fremden Berufsfeldern arbeiten müssen, weil der technische Fortschritt viele Werkzeugmacher überflüssig werden ließ. Was blieb, war die Lohnarbeit.
Im Lauf meines nachgeholten Bildungsganges habe ich von Adorno, Carlo Schmidt, Werner Hofmann, vor allem von Wolfgang Abendroth, gelernt, dass seit Marx die Forderung nach mehr Lohn das Kernproblem unserer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist. Es war Karl Marx, der im System der Lohnarbeit den Widerspruch aufdeckte, der über alle sonstigen Unterschiede der Menschen hinweg, die Klassenstruktur kapitalistischer Gesellschaften als objektive Gegebenheit bewusst machte. Dieser Widerspruch findet sich in der Struktur der kapitalistischen Gesellschaften. Er ergibt sich aus den nicht wirklich zu versöhnenden Interessengegensätzen, die sich als Lohnarbeit und Kapital gegenüberstehen und zu ständigen Auseinandersetzungen, Marx sprach von Klassenkämpfen, zwingen.
Was die Geschichte zwischen 1848 und 1948 lehrte, war, dass jeder Versuch einer Versöhnung zwischen Lohnarbeit und Kapital zum Scheitern verurteilt ist. Denn an der Eigentumsfrage scheiden sich die Geister. Und wer die Versöhnung zwischen Kapital und Arbeit will, ohne die private Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel wirksam einzuschränken, muss – was faktisch ein Widersinn ist – Versöhnung erzwingen. Deshalb münden alle Versuche dieser Art, gewollt oder ungewollt, ein in eine mehr oder weniger verschleierte Kapitaldiktatur.
Als Marx sich mit diesem Problem befasste, war der Kapitalismus, wo er schon mit revolutionärer Gewalt die Herrschaftsform des Feudalabsolutismus abgeschafft, dem Klerus und dem Adel das gottesstaatlich legitimierte Gewaltmonopol entrissen hatte, gerade dabei, sich mit den gestürzten Mächten zu verbünden. Denn es ging inzwischen um Abwehr der heraufziehenden Gefahr des Sozialismus. Dieser wurde vom so genannten "Vierten Stand", der Arbeiterklasse, auf demokratischer Basis angestrebt und konnte nur durch das Zusammenrücken der alten Feinde abgewehrt werden.
Marx entschied sich, den Sozialismus, den er sich vorstellte, Kommunismus zu nennen. Der Grund war der, dass sich plötzlich - als eine sozialistische Demokratie drohte - namhafte Mitglieder der Bourgeoisie, ja sogar reaktionäre Adelige als Sozialisten ausgaben. Nachzulesen im Manifest der Kommunistischen Partei, das Marx mit Engels verfasst hat und 1848 erstmals veröffentlichte. Genau diesen reaktionären Trick haben 70 Jahre später mit weit größerem Erfolg auch die Nazis angewandt. Die Reaktionäre der Weimarer Republik hatten plötzlich nichts mehr gegen den Sozialismus, es musste nur ein nationalistisch-rassistischer sein, der die Klassenspaltung nach dem Motto überwindet: Durch Rassenreinheit zu nationalen Einheit.
Der Gegensatz der Interessen zwischen Lohnarbeit und Kapital ist jedoch - wie gesagt - objektiver Natur. Das heißt: Er existiert und entfaltet seine enormen Wirkungen, ob er den Akteuren bewusst ist oder nicht. Ich muss hier diesen Gegensatz sicher nicht im Detail darstellen. Ich will aber auf einen seiner oft überhaupt nicht beachteten Aspekte hinweisen, der aus meiner Sicht von größter Bedeutung für den Kampf um Erhalt und Weiterentwicklung der derzeit bestehenden Demokratie ist. Ich spreche von der Entdeckung, dass Kapital und Lohnarbeit ein funktionales Ganzes, ein System sind, also beide Seiten in einem bedingungslosen Wechsel- und Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen, das für die jeweilige Qualität, den Entwicklungsstand des Systems, entscheidend ist.
Das aber heißt, stark vereinfacht ausgedrückt: Kapital ist nichts ohne Lohnarbeit. Diese Erkenntnis wurde zum Ausgangspunkt des von nun an berechtigten Anspruchs der Arbeiterbewegung, das System des Kapitalismus nicht nur überwinden zu können, sondern, um die verkündeten und gebrochenen Menschheits- und Menschlichkeitsversprechen der bürgerlichen Aufklärung einlösen zu können, es überwinden zu müssen. Diese marxistische Erkenntnis hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Maschinenstürmerei als falscher Ansatz zur Lösung der Probleme der arbeitenden Klasse begriffen und durch die Kampfform des Streiks, durch Forderungen wie die nach dem Achtstundentag und dem Verbot der Kinderarbeit ersetzt worden ist.
Die Arbeiterbewegung hat also ab Mitte des 19. Jahrhundert gelernt, dass das übermächtige Kapital ohne die ausbeutbaren, Mehrwert schaffenden Arbeitskräfte, ja das aller private Reichtum nichts wert, geradezu machtlos ist, wenn es nicht, möglichst rund um die Uhr und zu niedrigstmöglichen Preisen, Arbeitskräfte ausbeuten kann. Selbst zur Ausbeutung der Natur, Abholzung der Wälder, Gewinnung von Erzen und anderen Rohstoffen, bedarf es der mesnchlichen Arbeitskräfte. Natürlich hat man den theoretisch drohenden Mangel immer wieder durch den Einsatz von zuverlässigeren, nicht streikenden Maschinen, Automaten, Robotern abzuwenden versucht. Denn die Marktwirtschaft braucht auch die industrielle Reservearmee, den marktwirtschaftlichen Lohndrücker.
Die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse verwandeln bekanntlich alles, auch Arbeitskräfte, in Waren. Arbeitskräfte (deshalb dürfen sie keine Sklaven oder Leibeigene sein und mussten aus diesen Verhältnissen befreit werden) verkaufen ihre Arbeitskraft „freiwillig“, weil ihre Eigentumslosigkeit ein struktureller, nicht von anderen Menschen, Herrenmenschen, sondern von den gesellschaftlichen kapitalistischen Verhältnissen diktierter Zwang ist.
Wer nichts als seine Arbeitskraft zu verkaufen hat, muss vom Lohn leben und auch leben können. Wenn sich über die sowieso schon zu niedrigen Löhne auch noch skrupellose Miethaie, Ölgesellschaften, Elektrizitätswerke, Wasserwerke und Lebensmittelläden hermachen, bleibt für einen großen Teil der Gesellschaft weder etwas für Rücklagen und Sonderausgaben, noch für eine menschenwürdige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben übrig.
Umso verwunderlicher finde ich, dass die Gewerkschaften nicht klar und deutlich der falschen Redensart von der Lohn-Preis-Spirale widersprechen und beharrlich darauf dringen, dass von der Preis-Lohnspirale gesprochen wird. Der Normalfall ist nämlich, dass die Preise so gut wie immer den Löhnen davonlaufen und Löhne es selten schaffen, einmal kräftig und dauerhaft ihre Kaufkraft zu erhöhen. Mehr Lohn zu benötigen bedeutet deshalb oft, Nebenjobs anzunehmen oder Überstunden zu machen, die in vielen Arbeitsbereichen nicht einmal pünktlich, allzu oft überhaupt nicht, bezahlt werden.
Wenn der Lohn grundsätzlich der Marktpreis für die verkaufte Arbeitskraft ist, ist es ein Politikum, mehr Lohn zu fordern. Aber was sollen Arbeitskraftverkäufer tun, wenn ihr Kaufpreis unter die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten fällt, wenn der Lohn nicht zum Leben reicht? Ein Glücksfall für die Gewerkschaften ist es daher, wenn die Arbeitskräfte knapp werden, weil dies nach den Gesetzen des Marktes ihren Preis nach oben treibt. Derzeit haben wir auf unserem Arbeitsmarkt einen akuten Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, was zu Lohnforderungen ermutigt. Ich will einmal kurz auf einen interessanten Zusammenhang zwischen Arbeitskräftemangel und die wachsenden Schwierigkeiten einer renditeträchtigen Kapitalverwertung hinweisen.
Derzeit ist das in den Medien am meisten gesungene Klagelied: Es fehlt an Arbeitskräften, vor allem an qualifizierten Fachkräften. Man kann das Problem auch ganz anders beklagen, nämlich: Es ist zu viel Kapital auf der Suche nach Arbeitskräften. Leider ist nur die umgekehrte Klage fast jedem bekannt: Es fehlt an Kapital. Es ist vor allem die Klage in unterentwickelten Ländern, in denen Massenarmut herrscht. Es fehlt ihnen an Kapital. Arbeitskräfte gibt es im Überfluss, ihr Wert steht fast auf Null. In dieser aussichtslosen Lage suchen Menschen ihr Glück in Ländern, in denen das Kapital bevorzugt nach sicheren und renditeträchtigen Anlagemöglichkeiten sucht. Also auch nach Arbeitskräften.
Was also tun, wen nicht genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen? Was, wenn die Reserverarmee fehlt? Die Arbeitszeit verlängern? Mehr und schneller arbeiten? Mehr Geld in Bildung und Ausbildung investieren? Dies und vieles Andere wird zwar als Aufgabe des Staates gesehen, ihm wird aber die dazu erforderliche Steuererhöhung nicht erlaubt, weil sie ja das Kapital belastet. Das Argument: es könnten die großen Investoren abwandern oder nicht mehr zu uns kommen. Es könnte Arbeitsplätze kosten.
Könnte man Entlassungen bei diesem Arbeitskräftemangel nicht auch als Teil der Lösung betrachten? Ich vermisse hier die dem Problem angemessenen öffentlichen Diskussionen.
Das Kapital sucht sich derzeit die benötigten Arbeitskräfte, teils, indem es zu ihnen kommt, teils, indem es sich auf dem riesigen Weltmarkt für Arbeitskräfte die geeigneten auswählt und in die bevorzugten Standortstaaten holt. Hier nun entsteht ein Nebenwiderspruch, man könnte sagen, ein klasseninternes Problem, das als Nährboden des Nationalismus und des Rassimus gesehen werden muss. Es ist dies die vom Kapital erwünschte Konkurrenz der Arbeitskräfte untereinander. Um dieser Konkurrenz ihre Sprengkraft zu nehmen, hat die marxistische Arbeiterbewegung schon früh an sich selbst die Forderung nach internationaler Solidarität gestellt. Doch die nationalistisch und imperialistisch denkenden und handelnden Fraktionen der Unternehmen und deren Parteien haben schon früh an diesem wunden Punkte der Arbeiterbewegung mit nationalistischen Rassenideologien angesetzt, weil sie damit am erfolgreichsten deren Spaltung und Schwächung betreiben konnten.
Auf der anderen Seite hat sich die absolute systemische Zusammengehörigkeit von Lohnarbeit und Kapital als die schwächste Stelle des Kapitalismus erwiesen und Gewerkschaften und Arbeiterparteien immer wieder neue Möglichkeiten des Gegenangriffs geboten. Im politischen und wissenschaftlichen Herrschaftsdiskurs waren es die Kapitalfraktionen, die die Frage aufgeworfen und auf ihre Weise beantwortet haben: Wie kann man im Rechtsstaat den legitimen Anspruch der übergroßen Mehrheit derer, die über kein oder kein nennenswertes Eigentum verfügen, völlig legal daran hindern, eine wirksame demokratische Kontrolle über das Kapital zu erlangen, und zwar durch freie, gleiche und geheime Wahlen, die ja genügen, die kapitalbasierte Übermacht der Bourgeoisie per Gesetz, also im Prinzip gewaltfrei, auf friedlichem Weg, zu entmachten, sei es durch Enteignung, sei es durch eine auf qualifizierter Mitbestimmung beruhende Einschränkung der privaten Verfügungsgewalt über das Kapital.
Die Analyse der Lohnarbeit, der Arbeit von Menschen, die über kein Kapital verfügen, hat gezeigt, ja bewiesen, dass ein Lohnabhängiger, eine Lohnabhängige, nach den Kriterien der bürgerlichen Aufklärung, ihres auch andern Kulturen aufgedrängtes Menschenbildes, ihrer hoch gehaltenen Werte und Ideale, trotz des wunderbaren Artikels 1 unseres Grundgesetzes kein vollwertiger Mensch und kein vollwertiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden kann, so lange die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, mögen sie noch so viel Freiheit in der Freizeit, noch so attraktive Reiseziele für Lohnarbeiter und ihre Familien bieten, mögen sie auch befähigen, den Weltraum zu erobern, den Mars zu besiedeln, es nicht fertigbringen, den Hunger, das soziale Elend, die Not, die heilbaren Krankheiten, den Analphabetismus, Krisen, Kriege und menschengemachte Naturkatastrophen zu überwinden.
Wenn heute von den DGB-Gewerkschaften mehr Freizeit, in Form von Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, gefordert wird, könnte man meinen, die Gewerkschaften hätten das hehre Ziel, Befreiung der Arbeit durch Befreiung von Fremdbestimmung, aufgegeben und würden sich künftig mit der Forderung nach etwas mehr Freizeit begnügen. Hiervor kann ich nur warnen. Denn die Kapitalstrategen haben längst die Freizeit der Arbeitnehmer als eine zusätzliche Möglichkeit der unternehmerischen Bereicherung entdeckt und es mit dem alten, aber auf den neuesten - digitalisierten - Stand gebrachten Manipulationsmittel "Brot und Spiele", die Nazis sprachen von "Kraft durch Freude", geschafft, ganze Generationen von den Grundsatzfragen, die der Kapitalismus aufwirft, abzulenken.
Was sich in den Bereichen kommerzieller Sport, Fan-Kultur, Kulturindustrie, Konsumismus an wachsenden Problemen abzeichnet, deutet eher darauf hin, dass künftig auch die Freizeit, die Urlaubszeit, zum offenen Schlachtfeld um Geld, Macht und Ruhm werden wird. Hass und Hetze, Mord und Totschlag inbegriffen. Den Anfängen zu wehren, ist es schon zu spät. Hier braucht es eine besondere Form der Kulturrevolution.
Dass der DGB mehr Sicherheit fordert, passt in unsere, in diese spannungsgeladene, zunehmend von Wut, Hass, Hetze und Gewalt gezeichnete Zeit. Vor dem Hintergrund der derzeitigen Debatten über die Frage, wie viele und welche Waffensysteme wir an die Ukraine liefern, die ja nicht weniger als unsere Freiheit vor Putins imperialistischen Ambitionen verteidigt, ist die Forderung nach mehr Sicherheit besonders heikel. Denn unsere westliche Freiheit wird ja nicht nur vom lupenreinen Imperialismus Putins bedroht. Mindestens ebenso groß ist die Gefahr, die den kapitalistischen Demokratien von den innergesellschaftlichen neonazistischen Rechten und den Rechtspopulisten anderer Mitgliedstaaten droht.
Die Probleme des "freien Westens" verschärfen sich weiter, meines Erachtens unaufhaltsam. Denn mit dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung, den sich die kapitalistischen Demokratien, also nicht nur die Führungsmacht USA, sondern die gesamte so genannte Erste Welt, gigantische Summen hat kosten lassen, hat die nach 1945 entstandene geopolitische Machtbalance zerstört. Die USA befürchten nicht unbegründet, dass sie von einem neuen Westen, der sie einst selbst waren, nämlich vom dynamischen, kommunistisch-dirigistischen Kapitalismus Chinas, als Weltmacht Nummer 1, verdrängt werden. Sie orientieren sich nach Westen. Die Ostküste verliert an strategischer Bedeutung.
Die USA erwarten, ja fordern von der Europäischen Union, dass sie sich demnächst allein um Putins frühkapitalistischen Expansionismus kümmert, diesen Autokraten in auf eigene Kosten in die Schranken weist. Das wird sehr viel Geld kosten, was vor allem die Arbeiterklasse zu spüren bekommen wird, ja jetzt schon spürt. Es versteht sich, dass hier auch große Gefahren für die Gewerkschaften lauern. Allein schon, dass der verwelkte Nationalismus eine neue Blüte erlebt, ja ein neues Stadium des Nationalismus, ein expansiver Euronationalismus, droht, der - mit Frontex vorweg - die erweiterte EU zu einer Festung der Unmenschlichkeit auszubauen versucht.
Die Erhöhung der Staatsausgaben für mehr militärische Sicherheit erhöht selbstverständlich auch den innergesellschaftlichen Widerstand gegen noch mehr Schulden. Die heftigen Streitereien über die Schuldenbremse, die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ja nicht beendet, sondern auch eher verschärft wurden, zeigen an, dass die Sicherheitspolitik zu einer großen Zerreißprobe für die gesamte Gesellschaft, also auch für die Gewerkschaften zu werden droht. Besonders jedoch für die in der Rüstungswirtschaft Beschäftigten.
Wer sich in der Kriegsökonomie nur ein wenig auskennt, weiß, dass sie imstande ist, den Kapitalismus aus seinen tiefsten Krisen herauszuholen. Ich kann die Mechanismen, die das bewirken, hier schon aus Zeitgründen nicht darlegen. Aber soviel muss gesagt werden: Rüstung und Kriege sind, den Sieg im Krieg vorausgesetzt, hoch rentable Kapitalanlagen. Sie kurbeln große Industrien an, Stahl, Chemie, Elektronik, Kanonen-, Panzer-, Schiffs- und Flugzeugbau an. Sie erhöhen die Produktion moderner Waffensysteme, sichern alte und schaffen neue Arbeitsplätze. Rüstungsaktien bringen saftige Gewinne, ohne die Gefahr, die Überproduktion würde die Marktpreise für klassische Konsumgüter zerstören, weil sie die zivilen Konsumgütermärkte verstopfen, am Ende zu Stagnation, Krisen, auch Arbeitslosigkeit führen.
Der Arbeitsmarkt wird durch Kriege enorm entlastet, Arbeitskräfte werden knapp, gewinnen an Wert und an Wertschätzung. Spekulanten planen schon vor Kriegsende Investitionen in den Wiederaufbau, setzen schon auf das erfahrungsgemäß nach Zerstörungskriegen zu erwartende Wirtschaftswunder. Krieg ist die absolute Optimierung der Kapitalverwertung. Produktion und Konsumtion, Zerstörung und Erneuerung, Investition und Gewinn werden derart beschleunigt, wie es kein noch so geschickt organisierter Wegwerfkapitalismus ermöglichen kann. Es wird leider nirgends und von niemanden ernsthaft darüber diskutiert, ob die Kriegswirtschaft auch über die Möglichkeit umweltfreundlicher Kriege forschen lässt.
Sicher ist, Kriege garantieren höchste Gewinne. Sie dürfen allerdings nicht in die Standortstaaten der Kriegswirtschaft hineingetragen werden. Optimal sind deshalb Kriegsgebiete fern der etablierten kapitalistischen Demokratien, die sich als Wertgemeinschaft zur Verteidigung der unternehmerischen Betätigungs-, der Investitions- und politischen Interventionsfreiheit vor allem gegen jede Art von Sozialismus (jetzt endlich auch gegen den Nationalsozialismus?) zusammengetan haben und es immer häufiger anderen Nationen überlassen, für diese Kriege für uns zu führen.
Schon Georg Orwell hatte die geniale Idee, dass künftig Kriege in bestimmten Erdregionen zur Dauereinrichtung werden, um die Überproduktionskrisen und sonstigen gesellschaftlichen Probleme aus den Lebensräumen hochentwickelter Zivilisationen herauszuhalten. Davon sind wir noch weit entfernt. Aber es häufen sich die Anzeichen, dass irgendwann Kriege institutionalisiert werden, um die größer werdenden Kapitalverwertungsprobleme, die ja immer wieder sowieso zu Kriegen führen, dauerhaft und nachhaltig, freiheitlich und demokratisch kontrolliert, lösen zu können.
Wenn wir uns als gewerkschaftliche Friedensfreunde klarmachen, was es politisch und ökonomisch bedeutet, dass jede Rakete über eine halbe Million Euro kostet, und jede Rakete, die sie schon in der Luft unschädlich macht, ebenso viel; und wenn wir am Morgen in den Nachrichten hören, dass in der vergangenen Nacht 30 dieser Flugabwehrraketen Angriffe des Feindes schon im Luftraum abfangen und zerstören konnten, kann sich jeder ausrechnen, wie viel nur diese eine Kriegsnacht, vielleicht sogar ohne Menschenopfer, allein den Kapitalanlegern in der Raketenproduktion an Gewinn abgeworfen hat.
Das finden viele Menschen absoluten Wahnsinn, aber wenn sie dessen Ende fordern, werden sie als Putinversteher mundtot gemacht. Ich sehe die Gefahr, dass die letzten Reste der auch gewerkschaftlich stark unterstützten, ja teilweise sogar von gewerkschaftlichen Aktivisten mobilisierten Friedensbewegung, durch die allmählich die gesamte Gesellschaft spaltende Kriegspolitik und Kriegspropaganda ebenfalls zerlegt und zum Schweigen gebracht wird. Hoffentlich lassen sich unsere Gewerkschaften nicht, auch nicht teilweise, in diese neue Kriegsmaschinerie einbauen und von der Kriegshysterie zu geschichtlich nicht zu verantwortenden Entscheidungen hinreisen.
Schlussbemerkung
Ich habe über die aktuellen DGB-Forderungen, „Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit“, einen historischen Bogen geschlagen, um in der Kürze der mir gegebenen Redezeit wenigstens anzudeuten, dass Gewerkschaften, auch wenn sie inzwischen kaum noch als Kapitalopposition in Erscheinung treten, sondern ihre Repräsentanten in mitbestimmten Unternehmen fast nur noch in der Rolle eines Co-Managements wahrgenommen werden, nach wie vor die einzig legitime und kompetenteste Vertretung der Interessen der Lohn-, Gehalts- und Besoldungsabhängigen sind.
Es besteht leider die akute Gefahr, dass sich die authentischen Arbeitnehmervertreter selbst überflüssig machen. Und zwar durch mangelnde Systemkritik, zu große Nähe zum Kapital, den Kampfgeist der Mitglieder lähmende „Sozialpartnerschaft“. Zumindest für Außenstehende, die reale und potentielle Bündnispartner sind oder sein könnten. Besonders das tiefe öffentliche Schweigen der DGB-Gewerkschaften zu den seit Jahrzehnten extremer werdenden sozial- und umweltschädlichen Wirtschaftsverbrechen, zu verantworten von Unternehmensführungen, in denen die Gewerkschaften – wenn auch keine paritätischen, keine qualifizierten – Mitbestimmungsrechte haben. Diese Verbrechen untergraben für viele Gewerkschaften das für Mitgliedernachwuchs und solidarische Arbeitskämpfe notwendige Vertrauen. Vertrauen, das heute notwendiger ist als zu Zeiten des Kalten Krieges.
Hinzu kommt, dass – teils aus guten Gründen – immer mehr Spartengewerkschaften entstehen, die aufgrund ihrer Berufsstruktur einen weit höheren Organisationsgrad und damit eine viel größere Schlagkraft entfalten als die Branchengewerkschaften des DGB, also potentiell auch bessere Abschlüsse erzielen können. Hier ist - besonders um Zusammenhang mit der Sorge um die deutlich nachlassende Bereitschaft besonders kleinerer Unternehmen zu Tarifbindung - Solidarität gefragt, weil sonst auf längere Sicht eine Selbstentmachtung der gesamten Gewerkschaftsbewegung, wie bisher schon den traditionsreichen Arbeiterpareien, der Untergang droht. Eine Selbstentmachtung, die alle Kapitalopposition hinfällig werden lässt, erhoffen sich viele. Die neue Rechte wartet auf ihre Zeit.
Eine zusätzliche Schwächung der DGB-Gewerkschaften, auch der Spartengewerkschaften, könnte daraus entstehen, dass die weltweit immer aktiver und radikaler auftretenden NGO‘s, also die so genannten Nichtregierungsorganisationen, irgendwann an den Gewerkschaften und den ihnen nahestehenden Parteien links vorbeiziehen.
Vor allem die NGO‘s, die sich ernsthaft mit einer dringend notwendigen Abrüstungspolitik, mit der nicht enden wollenden Umweltzerstörung und dem Klimawandel befassen, mit Problemen also, die durch eine bedingungslos auf Wachstum ausgerichtete Industrie- und Handelspolitik entstehen und ebenfalls wachsen. Es kann daher leicht sein, zeichnet sich sogar schon ab, dass einige dieser NGO‘s ihre eigenen politischen Parteien und weitere so genannte Spartengewerkschaften gründen, die – wie die Gewerkschaft der Lockführer, die GdL, die Piloten-Gewerkschaft Cockpit und andere, ich denke hier an die riesige Zahl solcher Spartengewerkschaften in England – gerade für die jüngeren Menschen die DGB-Gewerkschaften überflüssig erscheinen lassen.
Wenn die Aktionen dieser NGO’s erfolgreicher sind als die der Gewerkschaften, die vielen jüngeren Aktivisten und Aktivistinnen ohnehin als veraltet, versteinert, dem System allzu angepasst erscheinen, also zu einer besonderen Art von Konkurrenten werden, und dies, weil ihre eigenen Ziele weit über die Forderungen der Tarifpolitiker hinausweisen, weil sie die Klimapolitik im Auge haben, in der ja auch die alte soziale Frage als Sprengsatz verborgen liegt, kann es sein, dass der Kapitalismus dann von einer völlig anderen Seite her als es die klassische, heute nur noch in spärlichen Resten bestehende marxistische Arbeiterbewegung versuchte, in Frage gestellt wird.
So viel müsste nach unseren historischen und aktuellen Erfahrungen völlig klar sein, der rechtsextreme, völkisch-nationalistische und rassistische „Sozialismus“, der von Hitler und seinen Nazis als Lösung angeboten wurde, und der sich heute, etwas aufgewärmt, als „Alternative für Deutschland“ der Arbeiterklasse als basisdemokratische Bewegung anbiedert, kann nur eine noch größere Katastrophe verursachen. Nationalismus und Rassismus sind historisch überholt, perspektivlos. Sie waren immer schon die Quelle von Kriegen, Krisen und sozialen Katastrophen, heute sind sie apokalyptisch.
Ich lese gerade ein über 500 Seiten umfassendes Buch des Wirtschaftsjuristen Toni Andreß, das durch den Titel „Das postkapitalistische Manifest“ auffällt. Der Autor versucht zukunftsweisende Antworten auf die schwierige Frage zu geben: „Wie wir unsere Wirtschafts- und Umweltkrisen lösen können.“ Das erschreckende ist, er greift alle Gewerkschaftsthemen ernsthaft auf und setzt sich mit ihnen durchaus systemkritisch auseinander, aber die Gewerkschaften selbst und die bestehende Mitbestimmung in Konzernen findet er nicht einmal erwähnenswert.
Ich kann dazu nur sagen: Gewerkschaften, erinnert Euch daran, dass ihr für weit mehr als für ein kapitalistisches Co-Management, für etwas höhere Löhne, etwas mehr Freizeit und eine aktienbasierte soziale Sicherheit gebraucht werdet. Lasst Euch nicht verführen. Es war Hitler, der, kaum an die Macht gelangt, den 1. Mai zum gesetzlichen und bezahlten Feiertag machte. Ein Hoffnungsschimmer: In der letzten Zeit haben sich wieder viele junge Menschen den Gewerkschaften angeschlossen.
Die grausame Zerschlagung der Gewerkschaften und die Aus- und Gleichschaltung vieler Gewerkschaftsfunktionäre in der deutschen Vergangenheit und in vielen Ländern heute noch, ist hoffentlich eine Warnung. Vergesst nicht die bis heute hochaktuelle Mahnung von Bertold Brecht: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch,“
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Es ist eine große Herausforderung, einem Menschen zum 90sten Geburtstag zu gratulieren, sein Leben und Lebenswerk zu würdigen, ohne bei Leserinnen und Lesern den Eindruck zu hinterlassen, es handele sich um einen vorgezogenen Nachruf. Denn ein Nachruf ist diese Hommage auf Jean Ziegler nicht. Er ist nur ein Vierteljahr älter als ich und sein Kampfgeist brennt noch immer lichterloh.
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Manch einen Jugendlichen lässt der „Rebell“ sehr alt aussehen. Jean Ziegler, dessen Bücher, Aufsätze und Interviews ich seit einem halben Jahrhundert gründlich lese, dessen Fernsehauftritte wie auch die teils gehässigen Filme, die in TV-Kultursendungen wie „Titel, Thesen, Temperamente“ über ihn gezeigt werden, habe ich 1991 erstmals in Genf persönlich getroffen, um ihn über die Gründung der Bürger- und Menschenrechtsorganisation Business Crime Control zu informieren und um Mitarbeit zu bitten. Er war sofort bereit. Danach traf ich ihn immer wieder auf Veranstaltungen oder Kongressen, auch mehrfach privat, von Mails und Telefongesprächen abgesehen. Ich habe selten einen so warmherzigen Menschen kennengelernt.
Aber er ist ein harter Kämpfer, vor allem, wenn es um Recht und Gerechtigkeit geht. Hier ein Beispiel: Als der Ostblock zusammengebrochen war, Ende August 1991, schrieb ein anonymer Passant mit Pinsel und weißer Farbe an das Moskauer Marx-Denkmal: „Proletarier aller Länder, vergebt mir.“ Kurz darauf erschien in Frankreich, ein Jahr später auch in Deutschland, Jean Zieglers Buch: „Marx, wir brauchen Dich – Warum man die Welt verändern muss“. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe nimmt Ziegler Marx in Schutz: „Der anonyme Passant irrt.“ Marx muss sich für Lenin, Stalin und die ganze russische Revolution ebenso wenig entschuldigen wie die Evangelisten für die spanische Inquisition und das, was die Christen beim Aufbau ihrer Kolonialreiche an Verbrechen begingen.
Den Zusammenbruch des kommunistischen Weltreichs vor Augen, sah Ziegler die Bestätigung seiner schon lange vorher geübten Kritik an diesem Sowjetsystem. Es hat zwar manches erreicht und verbessert, aber die in diesem System begangenen Verbrechen haben mit Marx und dessen Vorstellungen von einer kommunistischen Welt so gut wie nichts zu tun. Er bestreitet, dass die kommunistische Parteidiktatur von Marx gerechtfertigt worden wäre, dass Honecker, Hoffmann, Wolf, die anfangs noch kämpferische Idealisten waren wie die meisten anderen Kommunisten, Politik im Sinne des von Marx vertretenen Kommunismus gemacht haben. Ziegler bezweifelt sogar, dass sie, auch wenn sie sich immer wieder auf Marx beriefen, ihn jemals richtig verstanden haben. Marx war aus Zieglers Sicht eben kein Lenin, kein Mao, sondern ein Erbe der Französischen, der republikanischen Revolution.
Dass Ziegler im Augenblick dieses welthistorischen Ereignisses es für den Imperativ unserer Epoche erklärte, Marx vor denen zu verteidigen, die den Zusammenbruch des kommunistischen Imperiums nutzten, ihn auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen, gehört aus meiner Sicht zu den zwar kaum beachteten, aber größten Wagnissen eines linken Intellektuellen dieser Umbruchzeit. Das war Zivilcourage auf Weltniveau. Jean Ziegler setzte damals allerdings noch auf die in der Opposition verharrende Sozialdemokratie. Er schrieb: „Würde sie zu einem luziden Marxismus des Widerstands, so wie ihn ihr Gründer August Bebel praktiziert hat, zurückfinden, würde sich das Schicksal unseres Kontinents zum Guten wenden.“
Ich muss an dieser Stelle nicht daran erinnern, man hat es ja täglich vor Augen, was aus der SPD Bebels, zunächst unter Bundeskanzler Gerhard Schröder, jetzt unter Olaf Scholz, geworden ist. Ziegler hätte heute das Recht zu sagen: Hab ich es nicht gesagt? Die SPD hat ihre große Chance verpasst. Ich, derselbe Jahrgang wie Ziegler, ein halbes Jahr verängstigtes Mitglied der Hitlerjugend, 12 Jahre Werkzeugmacher, Gewerkschafter der IG-Metall, danach Studium bei Adorno, Carlo Schmid, Werner Hofmann, promoviert bei Abendroth, habe 45 Jahre meines Lebens durch beharrliche innerparteiliche Opposition versucht, diese vorhersehbare Abwärtsentwicklung der SPD abzuwenden. 2006 habe ich aufgegeben.
Ziegler gehört zu jenen, die in ihrer Jugend nicht links waren und dennoch ein Herz hatten. Er gehört aber auch zu den Wenigen, die, erwachsen geworden und zu Verstand gekommen, ihr Herz behielten und immer deutlicher nach links rückten. Seine gutbürgerliche Herkunft aus dem calvinistischen Thun legte das bildungsbürgerliche Fundament seines Linksseins, auch seines Gedankenradikalismus. Er war in jungen Jahren schon rebellisch und aufgeladen mit einem explosiven Gerechtigkeitssinn, aber eher konservativ, noch hinreichend angepasst und auch anpassungswillig. So wollte er zur Armee, wurde aber ausgemustert und soll darüber bitter enttäuscht gewesen sein.
Nach einem abenteuerlichen Studium der Juristerei und Soziologie, nach den Universitäten Bern und Genf studierte er in Paris und New York. Auf dem Rückweg von dort machte er einem Abstecher nach Kuba, wo er Che Guevara kennenlernte, von dem damals kaum ein Europäer gehört hatte. Dann ging Ziegler als Assistent eines UNO-Sonderberichterstatters zu einem längeren Aufenthalt nach Zaire, in das ehemalige Belgisch-Kongo, wo er entsetzliche Brutalitäten erlebte. Ich empfehle seinen einzigen Roman zu lesen. Titel: „Das Gold von Maniema“. Darin hat er seine dramatischen Erlebnisse realitätsnah nacherzählt. Später wurde Ziegler Mitglied der Schweizer Sozialdemokratie und war jahrelang als ihr Abgeordneter im Bundesparlament. Man lese dazu im Buch seines Genossen und Kollegen Helmut Hubacher „Tatort Bundeshaus“ (Bern 1995) das Kapitel über Jean Ziegler, Dann weiß man, dass er ein Mensch war und ist, den die politische Rechte hasste, die Linke liebte, auch wenn er sie gelegentlich überstrapazierte, frustrierte und schockierte und seine Fraktion, als ihn die beleidigten „Geier“ des Bankenbanditismus verklagten, mit der verhängnisvollen Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität bestrafte.
Viele marxistische Linke, anfangs auch mich, irritierte Ziegler, als er öffentlich bekannte: „Ich bin Kommunist und glaube an Gott“. Dieser Themenkomplex, der in der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung eine zentrale Rolle spielte und noch immer spielt, wurde von Linken, die sich auf den Hauptwiderspruch, den zwischen Kapital und Arbeit konzentrierten, immer als „Nebenwiderspruch“ abgetan. Als ob das nicht schon falsch genug gewesen wäre, wurde von den Linken, auch noch begründet mit einem falschen Marx-Zitat, dass nämlich „Religion Opium für das Volk“ sei, nicht nur die antisozialistische Kirchenpolitik und das Kapital, sondern auch der Glaube der Massen an einen Gott oder an ein Leben nach dem Tod bekämpft. Diesen Glauben hat Marx jedoch sehr ernst genommen. Er schrieb: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks.“
Eine derart einfühlsame Definition der religiösen Gefühle und Bedürfnisse des Menschen bietet weder Christen Grund zur Sozialisten- und zur Kommunistenjagd, noch liefert es Sozialisten und Kommunisten Gründe, Christen wegen ihres Glaubens zu verfolgen. Jedenfalls kann Karl Marx, der mit dieser empathischen Erklärung der Religion vor allem beabsichtigte, die alte, von bürgerlichen Aufklärern in die Welt gesetzte „Priestertrugtheorie“ zu widerlegen, nicht für die Feindschaft zwischen gottgläubigen Christen und gottlosen Kommunisten verantwortlich gemacht werden. Kirchen- und Parteichristentum erhoben das Kapital zu ihrem Gott und formierten sich zu einer antikommunistischen Avantgarde gegen Marx, gegen die marxistischen Arbeiterbewegung und alle, die das herrschende Elend mit der täglich – auch ohne marxistische Theorie – erfahrbaren und auch erkennbaren Tatsache erklärten, dass die Zwänge des kapitalistischen Systems nicht nur einen nie dagewesenen Reichtum, sondern auch durch rigorose Ausbeutung Hunger und weltweites Elend verursachen. Das berechtigt Ziegler, von einer „kannibalischen Weltordnung“ zu sprechen.
Wer für diesen Kapital-Kannibalismus das Privateigentum an Produktionsmittel verantwortlich macht, Enteignung oder qualifizierte Mitbestimmungsrechte der abhängig Beschäftigten oder gar des Staates, also eine Ausweitung der bestehenden Staatsdemokratie zu einer wirksamen Wirtschaftsdemokratie fordert, wird – obgleich die bundesdeutsche Verfassung dies nicht hergibt – wie ein Verfassungsfeind behandelt. Verfassungsfeindlich ist es aber, dass ab einem bestimmten Entwicklungspunkt der Kapitalkonzentration die demokratiefreie Privatwirtschaft sich demokratisch legitimierte Staaten unterwirft, dass immer mehr Staatsfunktionen zur privaten Bereicherung preisgegeben werden, dass die kapitaldemokratischen Staaten insgesamt tendenziell privatisiert und kommerzialisiert, also auch entdemokratisiert werden, dass sich ein planetarisches Macht-, Herrschafts- und Ausbeutungskartell etabliert, das Staatsgewalt für private Interessen reicher Minderheiten instrumentalisiert. Wer diese Entwicklung bekämpft, bekommt es nach wie vor auch mit der Kirche zu tun, die demnach ja keine Kirche der Armen, auch keine „Kirche von unten“ ist, wie sie von sich behauptet und viele glauben, sondern – trotz ihrer caritativen und diakonischen Leistungen – nach wie vor eine Kirche der Reichen und der Superreichen.
Es besteht also nicht der geringste Zweifel, dass die Kirchenoberen für den inhumanen, erbarmungslosen, ich sage, „moralisch gottlosen“, Vernichtungskampf gegen den revolutionären Marxismus und den aus ihm abgeleiteten „wissenschaftlichen Sozialismus“, und dies nicht nur, weil er sich zu einem „gottlosen“ Sozialismus und Kommunismus bekannte, die volle Verantwortung tragen. Ich habe die Zeiten erlebt, in denen Kirchen Hitler zu einem zweiten Messias hochstilisierten, und bin, seit ich erstmals wählen durfte, weder Christ noch Kommunist. Aber ich bin noch Kirchensteuerzahler, weil ich die Sozialarbeit der Kirchen vor Ort unterstützen möchte. Es war Mitten im Kalten Krieg, als der drohende Mauerbau die westdeutschen Politiker zwang, ihre eigenen Bildungsreserven auszuschöpfen, weil absehbar war, dass der Zustrom von qualifizierten Arbeitskräften aus der „DDR“, die man mit Anführungszeichen schreiben musste, demnächst von Walter Ulbricht gestoppt würde.
Jetzt hatte ich als Arbeiter die Chance, das Abitur nachzuholen und zu studieren, mich endlich als Sozialwissenschaftler beruflich mit gesellschaftlichen Problemen und Konflikten zu befassen, also auch mit dem damals besonders aggresiven Kampf der Partei- und Kirchenchristen gegen Sozialdemokraten und Kommunisten. Dem Verhältnis von Kirchen und Kapital auf der einen, Kirchen und Kommunismus auf der anderen Seite habe ich immer höchste Aufmerksamkeit geschenkt. In meinem Buch: Kapital-Verbrechen – Die Verwirtschaftung der Moral, habe ich diesem Thema unter dem Aspekt "Wirtschaftsverbrechen" mehrere Kapitel gewidmet.
Auch mit dem protestantischen Pfarrer Erwin Eckert habe ich mich intensiv befasst, dessen Leben und Werk Friedrich Martin Balzer dem Vergessen entrissen hat. Eckert wurde 1931 aktives Mitglied der KPD und hielt an seinem Glauben fest. Ein großes Thema, dass von einer sich erneuernden Linken unbedingt aufgearbeitet werden muss. Ebenso bedarf es einer Auseinandersetzung mit der Theologie der Befreiung, die vom polnischen Papst Johannes Paul II. zerschlagen wurde. Zieglers „Liebeskommunismus“ (ich verwende hier einen Begriff Max Webers, den er für das Urchristentum erfand), veranlasste mich, der Frage nachzugehen, ob dieses ursprüngliche Christentum nicht doch eine urkommunistische Form der Kritik an den Eigentumsverhältnissen der herodischen Epoche und der Besatzungspolitik des Imperium Romanum war. Ich sammle dazu, angeregt durch Ziegler, seit ein paar Jahren Material und hoffe, dass ich irgendwann die Zeit finde, es noch gründlicher auszuwerten.
Aber Ziegler, der sich Kommunist nennt und an Gott glaubt, ist immer noch, wenn auch ein kritischer, Sozialdemokrat. In seinem Buch über Marx findet man Sätze wie diese: „Was nützen heute noch jene Intellektuelle, die ihr Wissen und ihre Intelligenz einst in den Dienst der sozialdemokratischen und sozialistischen Bewegung gestellt hatten? Sie haben ihre einstigen geistigen Vorbilder – allen voran Marx – derart verunglimpft, dass sie heute den eigenen Verlust ihres Ansehens erfahren müssen.“ Das ist noch immer aktuell – es kommt aber noch schlimmer. „Ihre Fähigkeit, eine Diskussion zu entfachen und frische Anstöße für eine neue Bewertung der Welt zu geben, ist gleich Null. Dies hat zu einem gewissen Weltschmerz geführt, einer gewissen Verdrossenheit, die durchaus Ähnlichkeit hat mit dem Gefühl der Verbitterung der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts endgültig von der Macht ausgeschlossenen Aristokratie.“
Mit Blick auf die französische Linke meinte Ziegler damals, dass die Intellektuellen (unmittelbar nach dem Ende der bipolaren Weltordnung - HS) der Mitte zustreben, das „Verblassen der Dinge“, die „Ära der Leere“ verherrlichen, ja so tun, als ob dieser allgemeine Zerfall „die höchste Stufe der Demokratie“ darstelle. Das traf auch Teile der deutschen Intellektuellen, trifft sie besonders heute, da doch auch hier die Linke im Nichts, in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden droht. Ziegler propagierte dagegen sein Marx-Verständnis, als er schrieb: „Glücklicherweise kennt der Marxismus des Widerstands mehr als nur einen Schachzug, und auf den Trümmern dieses politischen und wirtschaftlichen Verfalls nimmt er uns in die Pflicht, immer wieder von neuem aufzubauen.“
Der Text erschien in Deutschland 1992. Da hatte ich schon mit diesem Neuaufbau begonnen und im März 1991 in der damaligen „Atomskandalstadt“ Hanau die Bürger- und Menschenrechtsorganisation Business Crime Control (BCC) gegründet. Danach hatte ich Jean Ziegler in Genf besucht, um ihm über die BCC-Gründung zu berichten und ihn zu bitten, unsere neue linke Aufklärungsorganisation zu unterstützen. Auf eine Formel gebracht, ging und geht es noch heute darum, für eine kriminalpräventive Wirtschaftsdemokratie zu kämpfen, statt Zeit und Kräfte für ein wirkungsloses Strafrecht gegen Korruption, Geldwäsche und Wirtschaftskriminalität zu verschwenden. Ziegler war – ohne sich dessen bewusst zu sein – ein wichtiger Initiator der BCC-Gründung.
Auch Eckart Spoo setzte damals auf einen Neuanfang. Nachdem er an unserem ersten großen Kongress über Wirtschaftsverbrechen in Frankfurt am Main teilgenommen und mich zu einem Vortrag über die „Geldmacht Deutschland“ nach Hannover eingeladen hatte, wurden wir enge Freunde. Mir wurde klar, dass auch Eckart zu denen gehörte, die – ähnlich wie Ziegler – auf die radikaldemokratischen Anfänge der bürgerlichen Revolutionen, zum Beispiel auf Freiherrn von Knigge, aber auch auf Carl von Ossietzky setzte. Es ging zunächst einmal nur darum, das linke geistige Erbgut vor denen zu retten, deren abgrundtief unanständiges Marxismus-Bashing, eine Übersteigerung des bis zum Mauerfall alltäglichen christlichen Antikommunismus, zu jener fatalen Entwicklung den Treibstoff lieferte, die inzwischen sogar von den Antikommunisten selbst als Bedrohung empfunden und – wenn auch noch halbherzig – bekämpft wird.
Spoo und sein Freundeskreis zeigten sich damals sehr besorgt darüber, dass das vereinigte Deutschland – ob es wolle oder nicht – in absehbarer Zeit wieder eine Weltmacht werde. Die Vorträge dieser Veranstaltungsreihe sind heute aktueller als damals. Sie erschienen unter der Überschrift: „Weltmacht Deutschland?“ (1996 im Donat Verlag). Ein Jahr nach Erscheinen dieses von Dietrich Heimann, Eckart Spoo und anderen herausgegebenen Büchleins, gründete Eckart Spoo die Zeitschrift Ossietzky. Ich darf hier also in Dankbarkeit festhalten, dass Jean Ziegler an der Gründung von Business Crime Control unmittelbar, vermittelt über mich auch ideell an der Gründung des Ossietzky mitgewirkt hat. Dafür und für seine langjährige Freundschaft möchte ich ihm ganz herzlich danken und ihm wünschen, dass die inzwischen – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und vielen Teilen der Welt – in eine schwere Krise geratene Linke sich stärker mit Zieglers „Marxismus des Widerstands“ befasst und bald wieder so stark wird, dass sie wenigsten die schlimmsten Konsequenzen der heutigen Globalkapitalpolitik verhindern kann.
Mit seinen Büchern und undogmatischen Zugängen zum postkommunistisch-globalen Finanzkapitalismus, den er als „kannibalische Weltordnung“ qualifiziert, hat Ziegler Ansätze entwickelt, die zeigen, dass und wie die bisher immer wieder Besiegten am Ende doch mehr als nur moralische Siege davontragen können. Um zu diesen Siegen beizutragen, muss sich die europäische Linke allerdings völlig neu orientieren. Eine Beschäftigung mit Zieglers methodischem Ansatz, er beschreibt ihn mit einem Ausdruck von Georges Balandier als „generative Soziologie“, könnte zur Überwindung der ideologischen Hindernisse, die Regenerationsversuchen linker Gesellschaftsanalyse und dem Erarbeiten einer neuen Stufe marxistischer Kritik der politischen Ökonomie im Weg stehen, von großem Nutzen sein. Ich selbst habe diesen Ansatz dazu genutzt, eine Kritik der Theorie und Praxis der kriminellen Ökonomie – sozusagen ein Erweiterungsbau der Kritik der politischen Ökonomie des klassischen Marxismus – vor allem durch Anregungen der von Ziegler favorisierten generativen Soziologie zu entwickeln.
Diese besonders in Frankreich heimische Soziologie hat viele Vorzüge vor den oft allzu routinierten und mechanisierten empirischen Methoden der US-Forschung, die in Deutschland Mainstream ist. Vor allem aber hat sie den Vorteil, dass sie den Hass auf den Westen erzeugenden Eurozentrismus jederzeit verlassen, dass sie die ausbeuterische Zerstörung der Welt des so genannten globalen Südens durch Landgrabbing, Ressourcenraub und totale Überschuldung, Armut und Migration verursachende Entwicklungspolitik ohne Scheuklappen in ihre Forschung einbeziehen kann und niemals den Eindruck zu erwecken versucht, völlig neutral zu sein.
Und noch ein letzter Aspekt: Zieglers traumwandlerischer Tanz über den schmalen Grat der Hoffnung. Er ist faszinierend, mitreißend, ansteckend. Ich zitiere nur einen Satz aus dem letzten Kapitel seines nach meiner Meinung als Lebens- und Erfahrungsbilanz verfassten Buches: „Ändere die Welt – Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen“ (München 2015) Das Kapitel beginnt mit dem Satz: „Gegen die weltweite Diktatur des globalisierten Finanzkapitals, ihrer Satrapen und Söldner, erhebt sich heute ein neues geschichtliches Subjekt: die weltweite Zivilgesellschaft.“ Und wer sich nichts Konkretes darunter vorstellen kann, lese den Teil IV seines 2002 bei Bertelsmann erschienen Buches „Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher“. Unter Punkt 3. „Die Fronten des Widerstands“ sind die damaligen Widersacher aufgelistet. Und es dürfte eines seiner schönsten Geschenke zu seinem 90sten Geburtstag sein, dass sich diese Widersacher, meist als Nichtregierungsorganisationen, seitdem nicht nur stark vermehrt, sondern auch radikalisiert und seinen Ideen angenähert haben.
Eine Rezension des Buches:
Franz Kohout
Austeilende Ungerechtigkeit - Wie die Wohlhabenden sich am Steuerstaat bereichern
Potsdam, edition fatal, 2023
Seitenzahl 169, Preis 24 €
Nachdenken über demokratisch legalisiertes Unrecht
Von Hans See
Erster Teil:
Ein Highlight der Steuerliteratur
Es ist lange her, dass mich Publikationen, die von Steuern und Steuerpolitik bzw. Menschen handeln,
die sich hemmungslos zu Lasten, oft auch mit Hilfe des Staates, an diesem bereichern, so sehr
fasziniert und inspiriert haben wie der – hier deshalb wärmstens empfohlene – im Herbst 2023 in der
Potsdamer „edition fatal“ erschienene Band von Franz Kohout.
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Ich erinnere an einige Bücher, in deren Tradition ich Kohout sehe. Es sind dies das Buch von Hans
Weiß und Ernst Schmiederer „Asoziale Marktwirtschaft – Insider aus Politik und Wirtschaft enthüllen,
wie die Konzerne des Staat ausplündern“ (Kiepenheuer & Witsch, 2004), dann die Bücher des
bayerischen Ministerialdirektors Wilhelm Schlötterer (vor allem der Band „Macht und Missbrauch“,
Fackelträger Verlag, 2009), dann das Buch des ehemaligen Steuerfahnders und heutigen Steuerberaters
Frank Wehrheim („Inside Steuerfahndung“, Verlag Riva, 2011). Schließlich wäre auch noch die Studie
von Hans Jürgen Krysmanskis „0,1 % - Das Imperium der Milliardäre“ (Westend Verlag 2012) zu
nennen.
Obgleich in Kohouts Buch, ganz im Gegensatz zu den genannten und vielen anderen, nur wenig
Sensationelles und noch weniger Spektakuläres, aber für sozial engagierte Menschen reichlich
Ärgerliches und zu Bekämpfendes zu entdecken ist, überzeugt es eben durch eine konsequente
Selbstbeschränkung. Auf ungewöhnliche Weise leistet der Autor Verzicht auf die seit Jahren
praktizierte Dramatisierung und Totalisierung gesellschafts- und staatspolitischer Themen. Unsere auf
Sensationen konditionierte Gesellschaft und ihre professionellen Unterhalter werden das als eine
unverschämte Zumutung empfinden.
Vielleicht sind auch viele Linke zunächst unzufrieden, weil Kohout der in solchen Büchern
obligatorisch gestellten Systemfrage keine Beachtung schenkt. Doch niemand sollte ihn voreilig
verurteilen, denn das, was er am Ende fordert, wird von vielen bürgerlichen Parteiideologen schon als
eine sozialistische oder gar kommunistische Revolution gedeutet und erbittert bekämpft werden. Heute
ist schon mit massivem Widerstand zu rechnen, falls es irgendeiner noch so systemkonformen, ja
kapitalfrommen Regierung kapitalistischer Demokratien einfiele, die von Kohout vorgeschlagene
Steuerreform für mehr soziale Gerechtigkeit auch nur ansatzweise zu realisieren.
Trotz seiner systemimmanenten Reformvorschläge schafft es der Autor, die Bereicherung am
Steuerstaat, die ja objektiv nur ein kleiner, wenn auch wichtiger, trotzdem von den meisten
kapitalismuskritischen Autoren – wenn überhaupt – nur am Rande gestreifter Problembereich der
Staatspolitik ist, als integrales Teilproblem der jeweils größeren Systemzusammenhänge im Blick zu
behalten. So unter anderem, indem er auch auf die innereuropäische, sogar die globale
Standortkonkurrenz der Steuerstaaten verweist und eine Steuerharmonisierung zumindest innerhalb
der Europäischen Union für notwendig erklärt.
Die besondere Behandlung der vielen anderen Bereiche, in denen sich die Wohlhabenden, Reichen
und Superreichen im neoliberalen Weltsystems des Finanzkapitalismus Extraprofite sichern, erübrigt
sich für ihn. Wahrscheinlich schon deshalb, weil ja spätestens seit der 1968er Studentenrevolte und
den ersten Berichten des Club of Rome die Kritik an der Ausbeutung der Dritten Welt durch die Erste und die der Naturressourcen vor allem mit Hilfe der vom freien Westen geschützten und gestützten
multinationalen Konzerne Langzeitthema linker Kapitalismuskritik gewesen ist und wohl auch
weiterhin bleiben wird. Dies hat aber nicht verhindert, sondern eher begünstigt, dass am Ende nicht
der Kommunismus über den Kapitalismus siegte, sondern der kommunistische Ostblock nahezu
lautlos zusammenbrach und wieder zum Kapitalismus, also auch zum militanten Imperialismus
zurückkehrte.
Wer heute öffentlich über Steuergerechtigkeit nachdenkt, ja sogar den Versuch macht, eine der
schwierigsten Materien der Staatspolitik, nämlich die ihrer Haushalts-Finanzierung und die
Verwendung, manche sagen Verschwendung, der Steuermittel, den verschiedenen organisierten
Interessengruppen der Gesellschaft zu erklären, und dies mit dem Ziel, eine sozial gerechtere
Verteilungspolitik durchzusetzen, riskiert es immer noch, wie schon zu Zeiten des Kalten Krieges, als
linker Spinner oder ferngesteuerter Revoluzzer, das heißt, als Feind der freiheitlichen Demokratie
moralisch denunziert oder auch durch Ausgrenzung und Karrierebruch abgestraft zu werden.
Schnell werden selbst Konservative und Liberale heftiger neoliberaler Kritik unterzogen, wenn sie
Verständnis für diejenigen zeigen, die die Eigentumsfreiheit aus Rücksicht auf Klima, Gesundheit und
Menschenleben etwas stärker zu begrenzen versuchen, und sei es durch das harmloseste staatliche
Steuerungsinstrument überhaupt, nämlich der höheren Besteuerung schädlicher Produktionsmethoden
und Konsumentenverhaltens, werden als Feinde des Rechts auf Privateigentum an Grund und Boden
sowie an Produktionsmitteln vielleicht sogar unter Beobachtung gestellt oder ausgegrenzt. Meist im
Namen der Freiheit, oft auch im Namen des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Als ob steuerpolitisch
angetriebene Motoren der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben nicht
Kassen- und Klassenkämpfe geradezu provozieren würden.
Auch wenn es rechtsradikalen Demagogen immer wieder gelingt, von diesen Kassen- und
Klassenkämpfen durch provozierte – oft antisemitische – Rassenkämpfe und fremdenfeindliche
Hasskampagnen abzulenken, die Forderung nach Zusammenhalt wird auf jeden Fall zur Farce. Wer
von diesem Autor, der das ja alles weiß, trotzdem eine systemkritische, oder gar dezidiert
antikapitalistische Staatskritik erwartet, sollte das Buch gar nicht erst lesen. Es ist für Menschen
geschrieben, die nach realen sozialen, nicht nach gesellschaftstheoretisch ermittelten Gründen für den
schleichenden Prozess der Verarmung größerer Bevölkerungsteile in einem der reichsten Staaten der
Welt suchen. Es ist für Menschen geschrieben, die sich weniger für Symptome als für die Ursachen
des brandgefährlichen parteipolitischen Rechtsdralls und des Vertrauensverlusts allzu vieler
Staatsbürger und Staatsbürgerinnen in die als „Mitte“ definierten demokratischen Parteien
interessieren.
Deshalb ist es ein Buch, das am Beispiel des bestehenden Steuer-Unrechts die geltende Rechtsordnung
und die für diese einstehenden staatlichen Institutionen unserer kapitalistischen Demokratie als
Unrechts-Ordnung durchschaubar macht. So gelesen, ist es ein Highlight der politischen Aufklärung.
Sachbücher dieser Qualität sind immer schon eine Seltenheit. Leider werden sie von denen, die sich
als mediale Aufklärer verstehen, meist gar nicht beachtet – man darf sagen: totgeschwiegen. Sie
müssten, zumindest für die sich gegenseitig das Leben erklärenden Talkshow-Moderatoren,
Wirtschaftsjournalisten, Politikprofessoren und die vielen sonstigen Weltdeuter zur Pflichtlektüre
erklärt werden.
Die Verleger des Buchs, Anil Jain und Mario Beilhack, hätten daher gut daran getan, es in den
Wettbewerb um das Sachbuch des Jahres 2024 zu schicken. Immerhin haben sie – was ja auch als
Besonderheit geltend gemacht werden kann – ein eigenes Vorwort vor das des Autors gesetzt. Ja sie
haben das Buch für so wichtig empfunden, dass sie es als Ersten Band einer neuen Themenreihe ihres
Verlagsprogramms herausgaben. Diese wird die bisherigen Reihen, die sich in philosophische oder
theoretische Schriften jenseits des akademischen Mainstreams aufteilen, unter dem Sammelbegriff
„Fatale Praxis“ sicher sinnvoll ergänzen.
2. Aufbruch in eine neue Übersichtlichkeit
Die schon vor Jahrzehnten von Jürgen Habermas beklagte „Neue Unübersichtlichkeit“ ist nach wie
vor, und besonders in Sachen Steuern und Abgaben, ein großes Problem. Allerdings ist die Klage
inzwischen alt und grau geworden und wird kaum noch problematisiert. Schon deshalb kann man
dieses Buch auch als einen gelungenen Versuch betrachten, einer neuen Übersichtlichkeit zum
Durchbruch zu verhelfen. Den derzeit häufiger als sonst erhobenen Anspruch verschiedener Autoren,
einer neuen Aufklärung verpflichtet zu sein, was mit dem Kant-Jahr erklärt werden kann, erhebt der
Autor nicht. Aber er könnte es, zumindest auf dem Gebiet der Steuerpolitik und des Steuerrechts,
dessen Ungerechtigkeiten er in beeindruckender Klarheit und Verständlichkeit herausarbeitet.
Die Steuererklärung muss ja nicht, wie der heutige CDU-Kanzler-Aspirant und frühere BlackRock-
Lobbyist Friedrich Merz einst großspurig verkündete, auf einen Bierdeckel passen. Es würde genügen,
wenn sie von möglichst allen Bürgerinnen und Bürgern, und nicht nur von einigen Steuer-Spezialisten
und -Experten, verstanden würde. Ein solches Verständnis besonders effektiv gefördert zu haben,
scheint mir, ist dem Autor gelungen. Kohout geht allerdings davon aus, dass die Steuerpflichtigen
genau wissen, dass man sich zu Lasten des Steuerstaates bereichern kann. Er, der fast zehn Jahre
seines Lebens den Beruf eines bayrischen Steuerinspektors in verschiedenen Finanzämtern ausübte,
durch systematische Weiterbildung und Studium Professor der Politikwissenschaften wurde, hat nun –
weil er es kann und er die Zeit für reif hielt – dieses kritische Buch über das „Wie?“ dieser
Bereicherung vorgelegt.
Schon aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass Franz Kohout nicht die Absicht hatte, den
Wohlhabenden noch ein paar neue Wege und noch mehr Tricks zu zeigen, wie sie sich einen Großteil
ihrer gezahlten Steuern wieder zurückholen können. Dazu kaufen sich viele Steuerzahler seit rund 40
Jahren den Long-Bestseller, der unter dem Titel der „Große Konz“ seinen Nutzern „1000 ganz legale
Tricks für Steuerzahler“ verrät. Daneben gibt es ja auch die mehr als 100 000 Steuerberater, die wieder
einmal an Zahl kräftig zunehmen und überwiegend in der „Steuervermeidungsindustrie“ eine
abhängige Anstellung finden. Erwähnt sei, dass außerdem jedes Jahr eine mehrere Regale füllende
Steuerberatungs- und Steuerhinterziehungsliteratur auf den Büchermarkt geworfen wird. Verlage, die
davon leben, haben – wie der Autor berichtet – sein eingereichtes Manuskript dankend abgelehnt.
Viele der Nutznießer dieses Unrechts, die in ihren Machwerken dennoch den demokratischen
Sozialstaat als Räuberbande darstellen, sind schon lange vom Un-Geist des sozialdarwinistischen
Neoliberalismus durchdrungen. Bei manchen Büchern fragt man sich, ob sich diese Autoren nicht der
Anstiftung bzw. Beihilfe zu Steuerstraftaten schuldig machen. Aber sie haben alle von Adam Smith
und dessen Epigonen gelernt, dass man sich auf keinen Fall erwischen lassen darf. Denn Strafe muss
sein. Klugerweise schlägt der Autor Kohout an keiner Stelle blindwütig und staatsfeindlich um sich,
wie das bei vielen Kritikern des Steuersystem, dessen Profiteure sie in Wirklichkeit sind, der Fall ist.
Denn es weiß doch inzwischen jeder, dass dies die Öffentlichkeit eher verschreckt als zu ihrer
Aufklärung beizutragen. So stellt der Autor schon im Vorwort fair, sachlich und fachgerecht fest, dass
„das Steuerrecht auch diverse vernünftige Absetzungspositionen“ anbietet.
Leider versäumte er zu erwähnen, dass Gewerkschaften ihren Mitgliedern über das Internet helfen,
ihre Lohnsteuererklärung steuermindernd einzureichen. Aber immerhin verweist er auf die
Veröffentlichungen des Netzwerks kritische „Steuergerechtigkeit“ und die Bürgeraktion
„Finanzwende“, von denen er sich, wie er sagt, zu diesem Buch inspirieren ließ. Es versteht sich, dass
diese genannten Portale auch den Leserinnen und Lesern dieses Buches zu empfehlen sind. Seinen
verfassungsrechtlichen Standpunkt verdankt Kohout – wie er offenlegt – zum großen Teil dem
ehemaligen Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde. Es wäre aber sinnvoll gewesen,
diesen Standpunkt näher zu erläutern. Denn Böckenförde war Schüler des berühmt-berüchtigten NS-
Staatsrechtlers Carl Schmitt, der nach 1945 seine Laufbahn, natürlich entnazifiziert, erfolgreich
fortsetzen konnte.
Kohout hätte das besondere Bekenntnis Böckenfördes zur Demokratie und seine kritische Haltung
gegenüber dem Bundesverfassungsgericht (das Carl Schmitt als staatlicher Souveränität sah),
wenigstens in Umrissen beschreiben sollen. Böckenvörde war nämlich Katholik und dennoch
Sozialdemokrat. Damals keine Selbstverständlichkeit. In einem Aufsehen erregenden Aufsatz über die
Entstehung der modernen Staaten aus der Säkularisierung mittelalterlicher Territorialherrschaften, kam
Böckenvörde zu dem Ergebnis, dass damit die unumstößliche christliche Letztbegründung von
Herrschaft in Gott verloren gegangen sei.
Der zentrale Satz Böckenvördes, der zwar die Demokratie vorbehaltlos anerkennt, aber nicht davor
zurückschreckt, auch ihren schwächsten Punkt zu benennen, lautet: „Der freiheitliche, säkularisierte
Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Wie wahr, wenn man gerade
wieder einmal erleben muss, wie leicht es rechten Demagogen fällt, demokratische Mehrheiten dazu
zu bringen, Parteien zu wählen, die versprechen, die Demokratie abzuschaffen. Kohout problematisiert
dieses zentrale „Böckenförde-Dekret“ nicht, was die Lesbarkeit dieses Buches sicher nicht erleichtert,
aber ganz gewiss mögliche Fehlinterpretationen seiner Absichten verhindert hätte.
Gerade jetzt, wo sich weltweit neue rechtsextreme Parteien – erfolgversprechend – auf den Weg
machen, demokratische Mehrheiten für die Abschaffung der bestehenden, aber von mächtigen
Interessengruppen verhassten Demokratie zu mobilisieren, wäre dies gerade im Zusammenhang mit
der Kritik der ungerechten Steuer- und Verteilungspolitik, ein wichtiges Thema gewesen. Um die
Lesbarkeit des Buches zu fördern, verzichtete Kohout aber nicht nur auf die Auseinandersetzung mit
solchen schwierigen Themenkomplexen, sondern auch auf einen Anmerkungsapparat. Das lässt sich
allerdings gut verkraften.
Erschwert wird jedoch die Lesbarkeit dadurch, dass der Verlag auf ein Sach- und Personenregister
verzichtete. Beim Erstellen eines solchen Registers wäre dem Lektor vielleicht aufgefallen, dass die
beiden Hauptakteure und Opfer des Hessischen Steuerfahnder-Skandals, Rudolf Schmenger (nicht
Schmerger) und Frank (nicht Franz) Wehrheim heißen (S.154). Schließlich wären kritische Leser und
Leserinnen, besonders potentielle Rezensenten, auch dankbar, wenn ihnen ein Register das
zeitaufwendige Rückblättern und Suchen nach wichtigen Zusammenhängen erspart bleiben würde.
Vielleicht lässt sich das ja in den wünschenswerten weiteren Auflagen noch reparieren.
3. Kein Buch mit sieben Siegeln
„Austeilende Ungerechtigkeit“, das klingt rätselhaft. Aber es ist kein Buch mit sieben Siegeln. Es hat
(inklusive Schlusswort) zwölf Kapitel und der Aufbau sieht wie folgt aus: Im 1. Kapitel lernen wir
alles über die Notwendigkeit einer soziale Gerechtigkeit anstrebenden Steuerreform. Im 2. Kapitel
geht es um „die soziale Schieflage bei der Einkommenssteuer“. Kapitel 3 zeigt, dass es die optimale
Ausnutzung der Gestaltungsfreiheiten bei der Steuererklärung ist, die diese besondere Form der
Bereicherung und des damit unvermeidlich verbundenen Wachstums der sozialen Zerklüftung der
Gesellschaft möglich macht.
In den Kapiteln 4 bis 7 werden die Besteuerungs-Ungerechtigkeiten einzelner Bereiche wie das
Immobiliengeschäft, die Einkünfte aus Kapitalvermögen, die speziellen Bereicherungspraktiken der
Konzerne und das uralte und doch immer aktuelle Problem mit der Besteuerung von Erbschaften
aufgezeigt, also nicht nur noch einmal behauptet, was sowieso fast jeder weiß, sondern das „Wie“ an
praktischen Beispielen einsichtig gemacht.
Im Zusammenhang mit der Steuervermeidungspolitik der Konzerne (7. Kapitel) kommen dann auch
die kriminellen Machenschaften zur Sprache, an denen sich sogar Wirtschaftsprüfungsgesellschaften
aktiv beteiligen. Sie sind aber nicht das zentrale Anliegen des Autors, weil er die von den liberal- und
sozialkapitalistischen Demokratie legalisierte Ungerechtigkeit, also die gesetzlich geförderte
Bereicherung der ohnedies schon Wohlhabenden, in den Mittelpunkt stellt und erfreulich detailliert,
verständlich und durchweg kritisch die Probleme abarbeitet.
Dass das Buch die Privilegierung der Wohlhabenden in den Mittelpunkt rückt, schließt nicht aus, dass
das ganze 8. Kapitel der Benachteiligung der „kleinen Leute“ gewidmet ist. Man erfährt hier
fairerweise, dass auch sie, Kohout nennt sie die Kleinschmidts – soweit sie zu den Steuerpflichtigen
gehören – die eine oder andere Chance geboten bekommen, sich einen Teil ihrer gezahlten Steuern
zurückzuholen, aber auch, dass viele Lohnabhängige erst gar keine Steuererklärung abgeben und
damit – geschätzt – dem Staat mehr als eine geschätzte Milliarde Euro jedes Jahr schenken.
Die Kapitel 9 und 10 befassen sich mit den (möglicherweise auch da und dort verfassungswidrigen)
Mängeln der Steuergesetzgebung und der Steuerverwaltung, die – auch hier teils gewollt – darauf
verzichten, gesetzliche Steueransprüche des Staates, der Länder und der Kommunen tatsächlich
einzutreiben. Es werden mangelnder politischer Wille, Personaleinsparungen, man könnte auch von
Bürokratie- und damit demokratischer Kontrollabbau sprechen, dazu die Macht der Steuerlobbyisten
und die Schwächen der Steuerfahndung offengelegt. Nicht vergessen werden auch die Zwänge (zu
Koalitionskompromissen) des Parteiensystems und des Föderalismus, die in kapitalistischen
Demokratien zum System gehören, also nur abgeschafft werden können, wenn man das System
entsprechend weiterentwickelt.
Zu der Frage der Systemgrenzen gehört – worauf nun wieder Kohout hinweist – auch eine bedeutende
wahlsoziologische Komponente. Weil nämlich vor allem die Wohlabenden wählen gehen und jenen
Parteien nahezu regelmäßig zur Mehrheit verhelfen, die gegen Steuererhöhungen und für einen als
Sparpolitik deklarierten Sozialabbau eintreten. Bei den materiell schlechter gestellten Schichten wird
aber eine erheblich geringere Wahlbeteiligung gemessen, daher fehlt regelmäßig der notwendige
politische Druck auf die Parteien, ein sozial gerechteres Steuersystem zu schaffen.
Im 11. Kapitel unterbreitet Kohout dennoch Reformvorschläge für eine gerechtere Besteuerung von
Einkommen, Vermögen und Erbschaften. Denn, so in seiner Schlussbemerkung: „Nicht die einzelnen
kleineren und größeren Steuertricksereien sind ein Skandal. Der eigentliche Skandal ist das
Steuersystem selbst, weil es in großen Teilen zu einer geschickt angelegten Subventionierung der
Wohlhabenden verkommen ist.“
4. Fazit und Hinweis:
Das ist endlich wieder einmal ein lesenswertes, weil die festgefahrenen Denkstrukturen unserer
kapitalismuskritischen Politikwissenschaften aufbrechendes Buch. Es greift ein Thema auf, das in der
kapitalismuskritischen Literatur kaum behandelt wird: Das komplizierte Haushalts- und Steuerrecht,
und hier insbesondere die in ihm versteckten Privilegien der Wohlhabenden.
Ich beende hier die Rezension, werde aber in einem Zweiten Teil noch einige – aus meiner Sicht
wichtige, sicher nicht ganz neue, aber weitgehend vergessene, durch dieses Buch neu angeregte –
Gedanken dazu formulieren, zu denen mich das oben erwähnte Vorwort der Herausgeber angeregt hat.
Denn sie schließen mit den Worten: „Man sieht, wenn man über das Thema Steuern und Gerechtigkeit
nachdenkt, landet man schnell bei der Systemfrage. Gut so! Denn so wird aus einer fatalen Praxis
möglicherweise ihr eigener Tod. Das Buch von Franz Kohout könnte, so hoffen wir, entsprechend auch für die Leser Anlass sein, sich darüber hinaus Gedanken zu machen – und Konsequenzen zu ziehen.“
(Ein zweiter Teil folgt),
in dem eine Analyse der Rolle des Steuersystems in kapitalistischen Demokratien geliefert als auch
daran erinnert wird, dass die bedeutendsten bürgerlichen Revolutionen, sogar die Entstehung der USA, ihren Ursprung in Steuerrevolten hatten.
Business Crime Control, 1991 in Hanau gegründet, erhielt 1993 anonym einen dicken Aktenordner zugeschickt, in dem alle wichtigen Beweise zusammengetragen waren, die den in Steinhagen ansässigen Sportbodenhersteller Friedel Balsam eines Milliardenbetrugs überführten.
Der anonyme Absender hatte, wie er mir in einem späteren Telefongespräch mitteilte, mit einem gleichen Ordner die zuständige Staatsanwaltschaft Bielefeld informiert, die aber nicht reagierte. Ich empfahl dem Informanten, seine Anonymität aufzugeben und damit die Sache ins Rollen zu bringen.
%alery-divider%
Meine Versuche, den SPIEGEL über diesen Milliardenbetrug zu mobilisieren, waren gescheitert. Aber nicht etwa, weil der SPIEGEL kein Interesse an dem Fall gehabt hätte. Die wenigen Redakteure, die sich mit dem Thema Wirtschaftsverbrechen überhaupt befassten, waren überlastet, mit anderen Fällen beschäftigt.
Da die Bielefelder Staatsanwaltschaft gar nicht daran dachte, sich mit Balsam zu befassen, entschloss sich der damalige Wirtschaftskriminalist Karlheinz Wallmeier, Kriminalhauptkommissar in Bielefeld, am Staatsanwalt vorbei zu ermitteln. Die im Aktenordner erhobenen Vorwürfe bestätigten sich, so dass der Fall schließlich doch ins Rollen gebracht werden konnte. Es erwies sich, dass es sich im „Fall Friedel Balsam“ um eines der größten Wirtschaftsverbrechen in der Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung handelte.
Nun, rund zwanzig Jahre später, hat die bekannte Filmregisseurin Schillinger eine zweiteilige, insgesamt 90minütige Dokumentation für Arte und ARD gedreht, die vor einigen Tagen in Arte am Stück gezeigt wurde. Ein Wirtschaftskrimi, den nicht nur wirtschaftskritische Menschen gesehen haben sollten. Zwar hat für jemanden, der die gesamte Geschichte kennt, der Film einige Lücken und einige Längen, aber er enthält alle wesentlichen Elemente, die zum Verständnis auch der früheren und späteren Wirtschaftsverbrechen in Deutschland, Europa und der übrigen Welt hilfreich sind.
Ich selbst, als Gründer und Ehrenvorsitzender von BCC, durfte bei diesem Film mitwirken, vor allem jedoch hat Kriminalhauptkommissar Wallmeier darin die verdiente Hauptrolle gespielt. Dass BCC ihm 1994 den mit 3000,- Euro verbundenen Preis für Zivililcourage verlieh, wurde zwar nicht erwähnt, aber durch eine kurze Einblendung der „Urkunde“ eindeutig dokumentiert. Ich selbst hatte die Möglichkeit, ein paar über den Fall hinausgehende Gedanken in den Film einzubringen, vor allem den, dass es sich bei diesem Verbrechen nicht um einen Einzelfall handelt, sondern um ein strukturelles regulierter Wirtschaftsysteme, was im Film durch den Hinweis auf den Fall Wirecard unterstrichen wurde.
Wer den Film nicht gesehen hat, sollte sich die Zeit nehmen, ihn aufmerksam anzusehen. Auch wenn darin nur indirekt angedeutet wird, dass es sich um ein gravierendes Demokratieproblem handelt, ist dies doch ein ganz wesentlicher Gedanke, der über diesen Einzelfall hinausweist, der Entwicklungen erklärt, wie wir sie am Beispiel Mussolini, Hitler, Pinochet, Berlusconi, Putin, Le Pen, Trump und vielen anderen „Größen“ unserer kapitalistischen Demokratien studieren können. Dass das, was 1933 geschah, sich nicht ähnlich wiederholen könnte, glaubt hoffentlich niemand mehr. Am wenigsten glauben das natürlich diejenigen, die mit dem Untergrundkapitalismus und seinen Repräsentanten offen sympathisieren und hinter die kapitalistische Demokratie zurück möchten, statt, was notwendig wäre, über sie hinauszuwachsen, also für eine wirksame Wirtschaftsdemokratie zu kämpfen. Hier zeigt sich die Schwäche der Linken. Sie schenkt diesem wichtigsten Ziel ihrer Politik kaum noch Beachtung und lässt sich durch die raffinierten Ablenkungsmanöver der Sozialstaats- und Sozialismusfeinde von Mitte bis Rechtsaußen aufs fremdenfeindliche und rassistische Glatteis führen.
Siehe in der Mediathek von ARTE: Der Milliarden-Coup
Von Hans See
Unser Freund und Mitstreiter in Sachen „Kampf den Wirtschaftsverbrechen“ ist von uns gegangen. Wie soll man diesem ungewöhnlichen Menschen, diesem großartigen Aufklärer in einem Nachruf gerecht werden? Ich versuche es, indem ich hier ein „Nachwort“ ins Netz stelle, das ich 1998 für Erich Schöndorfs Sachbuch „Von Menschen und Ratten – Über das Scheitern der Justiz im Holzschutzmittelskandal" unter der Überschrift: Was heißt hier Risikogesellschaft?, geschrieben habe. Die größte Ehre kann ihm erweisen, wer sich das Buch beschafft und es gründlich liest. Es enthält alles, was ein klassisches Aufklärungsbuch über das Thema Umweltverbrechen auch heute noch und für die nächsten Jahrzehnte enthalten muss. Es ist brennend aktuell, Mein Nachwort von damals zeigt hoffentlich, dass Erich Schöndorf ein wahrhafter Pionier im Kampf gegen die systematischen Zerstörer unserer Umwelt war und uns allen sehr Wichtiges mitzuteilen hat, allen, die sich heute in diesen Kampf begeben. Es geht um nichts Geringeres als um die Kontrolle über die enormen Risiken, die das menschliche Leben auf unserem Globus bedrohen. Es geht darum, die Risiken für die Gattung Mensch so weit zu minimieren, dass wir alle, Umweltzerstörer und andere, die das Zerstörungsgeschäft um ihrer Profite willen skrupellos fortsetzen, noch eine Chance haben, künftigen Generationen ein lebenswertes Leben zu ermöglichen.
%alery-divider%
Ich schrieb 1998 (die Rechtschreibung ist so belassen):
Wer von Juristen gefertigte Dokumente kennt, traut Vertretern dieser Berufsspezies nicht zu, spannend schreiben zu können. Doch Tatsache ist, daß viele große Schriftsteller - ich hebe aus gutem Grund nur Kafka und E.T.A. Hofmann hervor, obgleich auch Goethe in Frage käme - Juristen waren. Das vorliegende - spannende! - Buch ist jedoch kein Roman, keine Fiktion. Es handelt allerdings von kafkaesken, phantastisch anmutenden Realitäten, von der Wirklichkeit unserer „Risikogesellschaft".
Der Sozialwissenschaftler Ulrich Beck brachte diesen Begriff vor Jahren durch differenzierte Analysen unserer gegenwärtigen Lage in Umlauf. Inzwischen benutzen allerdings auch die das Schlagwort, die es als Risiko für den Standort Deutschland betrachten, wenn Bürgerinitiativen und Umweltpolitiker fordern, die Benzinpreise zu erhöhen, Grenzwerte von Umweltgiften zu senken, Nahrungsmittelkontrollen zu verschärfen, Atomkraftwerke abzuschalten und gentechnologische Experimente - insbesondere am Menschen - zu verbieten.
Risikofaktoren für den Standort Deutschland sind aus Sicht der Kapitalanleger also nicht die Menschen, die durch ihre Profitsucht, ihren Wachstumswahn und ihre Machtbesessenheit Umwelt und Gesundheit von Pflanzen, Tieren und Menschen gefährden und zerstören. Es sind vielmehr die Einzelkämpfer und Organisationen, die angesichts dieser Gefährdungen, konkreter Leiden und Schäden von Millionen und - global gesehen - Milliarden von Menschen höchste Anforderungen an Verbraucher-, Gesundheits-, Tier- und Naturschutz stellen und dafür durchaus bereit sind, niedrigere Renditen für Geldanleger und Nachteile für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in Kauf zu nehmen.
Der Begriff Risikogesellschaft ist also geeignet, auf alles und jedes angewandt zu werden. Er kann von jedem Versicherungsvertreter benutzt werden, dessen Job es ist, überschaubare und kalkulierbare Lebensrisiken zu Geld zu machen. Doch Beck meinte gerade nicht die Risiken, gegen die wir uns versichern können, obgleich wir ihnen täglich ausgesetzt, ja ausgeliefert sind. Er meinte die meist ganz legale Naturzerstörung, "die Skelettierung der Wälder, schaumgekrönte Binnengewässer und Meere, öl verschmierte Tierkadaver, Smog, Schadstofferosionen an Gebäuden, an Kunstdenkmälern, die Kette der Gift-Unfälle, Gift-Skandale, Gift-Katastrophen und die Medienberichterstattung darüber." Sarkastisch stellte er in seinem 1986 erschienenen Buch .Risikogesellschaft" fest: "Die Schad- und Giftstoff-Bilanzen in Nahrungsmitteln und alltäglichen Gebrauchsgegenständen werden immer länger. Die Dämme der 'Grenzwerte' scheinen mehr den Anforderungen an Schweizer Käse (Je mehr Loch desto besser) als dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung zu genügen."
Becks Analyse müßte ausreichen, veröffentlichte Meinung, Parteiprogramme, Gesetzgebung, Wirtschaftspraxis, Wissenschaft und die Justiz grundlegend zu reformieren, ja zu revolutionieren. Da aber, gemessen an dem, was national und international notwendig wäre, nahezu nichts geschieht, kommentierte der junge Schweizer Lyriker und Schriftsteller Peter Fahr (BCC-Mitglied) in seinem Buch "Ego und Gomorrha": "Wenn Sozialkritiker neuerdings von Risiko- und Katastrophengesellschaft sprechen, meinen sie im Grunde ein System von Halsabschneidern, die weder vor Machtmißbrauch noch vor kriminellen Handlungen zurückschrecken, wenn es darum geht, eigene Scheinbedürfnisse zu befriedigen; ein System von Weltbürgern, die mit gefährlicheren materiellen Stoffen und geistigen Kräften spielen, ohne die Folgen ihres Spiels abzusehen; ein Weltsystem, das die vier Elemente verdirbt und die Energie- und Rohstoffvorräte des Planeten plündert bis zur bitteren Neige. Sie meinen eine Gesellschaft, die sich selbst umbringt, eine Suizidgesellschaft."
Ich finde dies sehr treffend. Denn tatsächlich vermeidet Ulrich Beck wie ein auf nichtstaatliche Forschungsgelder angewiesener Wissenschaftler die Auseinandersetzung mit den "Halsabschneidern." Folglich bleibt in seinem so wichtigen und vieldiskutierten Werk ein zentrales Problem nahezu vollkommen unbeachtet: die Wirtschaftskriminalität, der ganz konkrete, alltägliche Mißbrauch wirtschaftlicher Macht, die wirtschaftskriminellen Handlungen, einschließlich der Umweltkriminalität als eines der größten Segmente der Wirtschaftskriminalität. Beck konzentriert sich - was völlig legitim, aber eben nicht genug ist – auf die legalisierte Naturzerstörung, legalisierte Menschengefährdung. Ein wichtiges Problem, ganz zweifellos, aber es scheint lösbar. Zumindest in Demokratien bestimmen die Bürger über die Zusammensetzung der Gesetzgebungsorgane, demokratische Gesellschaften können die Legalisierer unverantwortlicher Risiken abwählen. Tun sie es nicht, fällt die Verantwortung bei vordergründiger Betrachtung auf die Wähler zurück. In Deutschland hat der sogenannte Souverän - das Volk - kurz vor Redaktionsschluß dieses Buches einen Regierungswechsel herbeigeführt. Während den einen die Vereinbarungen der rot-grünen Koalition zu weit gehen und sie große Gefahren für den Wirtschaftsstandort Deutschland sehen, greifen sie in den Augen der anderen zu kurz. Daß es in der Tat extrem schwierig ist, einen ganz anderen Polit-Kurs zu steuern, zeigt, worunter unsere Demokratie leidet: unter dem strukturellen Widerspruch, daß es in ihrem noch immer national begrenzten politischen Herrschaftsbereich international operierende Wirtschaftsunternehmen gibt, die getrost als demokratiefreie Inseln betrachten werden können. Der international bekannte US-Amerikaner Noam Chomsky nennt sie daher Tyranneien. Tatsächlich erscheint es immer schwerer zu werden, sie auf die geltenden demokratischen Gesetze zu verpflichten, wenn diese nicht ausdrücklich den an oberster Stelle der Unternehmenspolitik stehenden Profitinteressen dienen.
Sobald ein verantwortungsbewußter Gesetzgeber den Versuch unternimmt, in das angeblich den Konsumentenwünschen verpflichtete Umweltvernichtungsprogramm regulierend einzugreifen, wird dies von fundamentalistischen Marktideologen als Eingriff in die unternehmerische Betätigungsfreiheit interpretiert. Die Abwehrschlachten des Kapitals werden begleitet von einem massiven legalen, aber auch illegalen - das heißt geheimen und mit dem Schmiermittel Geld wirksam erhöhten - Lobbyismus, durch Korruption, Politikerkauf, Erpressung. Mit kapitalgestützten Angstkampagnen, die vor allem vor Wahlen auf die Gefahren einer ökologisch orientierten Gesetzgebung für Arbeitsplätze und internationale Wettbewerbsfähigkeit hinweisen, wird die systematische Umweltzerstörung legalisiert, werden schärfere Kontrollen wirtschaftlichen Machtmißbrauchs erfolgreich abgewehrt. Und falls dies wegen öffentlichen Drucks nicht ganz gelingt, werden die Gesetze durchlöchert und ihre wirksame Umsetzung verhindert. In vielen Chefetagen wird es - einmal abgesehen von Tarifverträgen, Geschäftsabmachungen, Wettbewerbsregeln - nicht einmal mehr für nötig erachtet, die geltenden Strafnormen zu beachten. Warum auch? Die Wahrscheinlichkeit, unentdeckt zu bleiben, ist groß, und noch größer ist die Chance, im Falle der Entdeckung weitgehend unbeschadet und billig davonzukommen. Warum Gesetze respektieren, wenn sie nicht einmal vom Gesetzgeber ernst genommen werden?
In seinem zweitem Buch zu diesem Thema ("Gegengifte - Die organisierte Unverantwortlichkeit", 1988) schreibt Ulrich Beck über die kriminelle Seite unserer Wirtschaft, die ansonsten auf Rechtsstaatlichkeit, Rechtssicherheit und Modernität so viel Wert legt: "Nicht nur die Seehunde in Nord- und Ostsee sterben einen qualvollen Tod. Selbst bei den Pinguinen .am Südpol ist die Chemie, zu der die zivilisatorische Welt im Innersten geworden ist, inzwischen reichlich angekommen. Doch die Justiz, eingemauert in das Selbstverständnis einer anderen Epoche, kann wie zu Dorfrichter Adams Zeiten erst dann eingreifen, wenn im chemischen Universum das traditionelle Relikt eines 'Einzeltäters' dingfest gemacht wurde."
Mit solch „organisierter Unverantwortlichkeit“, wie Beck es formuliert, setzen sich unsere Sozialwissenschaftler nicht ernsthaft auseinander. Selbst in den Büchern des sonst so klugen Ulrich Beck ist die oben zitierte Bewertung die einzige Passage, in der er sich mit dieser Problematik auseinandersetzt. Ganz anders verhält sich da der Jurist Erich Schöndorf, der gründlich, herausfordernd und wohltuend unjuristisch - also allgemeinverständlich - dieses vielen allzu heiße Eisen anpackt. Es ist ein großes Verdienst, klarzumachen, daß es sich beim Holzschutzmittel-Skandal um ein viele Menschen gesundheitlich und materiell schwer schädigendes Wirtschaftsverbrechen handelte.
Man muß Schöndorf für seine Aufarbeitung des Falles besonders dankbar sein, weil dieser - juristisch abgeschlossen - sich hervorragend eignet, die verwickelten
Zusammenhänge sowie Macht- und
Interessenstrukturen zu erörtern. Der Kampf der Interessengemeinschaft der Holzschutzmittel-Geschädigten (IHG) wäre zum Beispiel völlig aussichtslos gewesen, wenn nicht ein kämpferischer Staatsanwalt wie Erich Schöndorf, ein ebenso couragierter Wissenschaftler wie Prof. Dr. Otmar Wassermann, Leiter der toxikologischen Abteilung der Universität Kiel, aber auch namhafte Journalisten wie Herbert Stelz vom Hessischen Rundfunk, die Bedeutung dieses Falles begriffen, ihn aufgegriffen und sich für die Rechte der Opfer wirtschaftskrimineller Praktiken engagiert hätten. Und zwar trotz der Gefahr der Diskriminierung und Isolation. Das führte dazu, daß sogar Richter des Frankfurter Landgerichts es damals als erwiesen ansahen, dass die Angeklagten nach Gesetzeslage Straftäter sind. So weit wagten sich die Richter des Bundesgerichtshofes leider nicht.
Die Organisation „Business Crime Control e.V.“ (BCC) verlieh der IHG für ihren aufklärerischen Kampf um die Rechte der Opfer des Skandals 1995 ihren Preis für Zivilcourage. Ich schrieb damals an deren Vorstand, daß die von der IHG geführten Prozesse „trotz des Urteils des BGH doch auch Erfolge mit sich gebracht" haben. „So haben die Chemiekonzerne unter dem Eindruck dieser Prozesse inzwischen neue - und wie es heißt - ungefährlichere Holzschutzmittel auf den Markt gebracht. Das öffentliche Bewußtsein für die Gefährlichkeit von Marktprodukten, für unsere Wohnumwelt und damit auch Menschenvergiftung ist in hohem Maße sensibilisiert worden. Und vielen Menschen wurde vorbildhaft gezeigt, daß man sich wehren kann und muß, weil anders der Übermacht der Wirtschaft nicht zu begegnen ist. Durch Ihren Kampf mußten Staatsanwälte, Richter, Wissenschaftler und Politiker Position beziehen. So hat sich gezeigt, daß es auch unter diesen Einzelpersönlichkeiten gibt, die sich der Probleme und der Verantwortung unserer heutigen 'Risikogesellschaft' schon bewußt sind. Ausdrücklich sollen sie durch die Preisverleihung an die IHG mit geehrt werden.“ Mit zu den Geehrten gehörte auch der Autor dieses Buches, Erich Schöndorf. Die IHG und ihre Mitstreiter errangen unglaubliche Siege, aber am Ende folgten auch schlimme Niederlagen. Daß Erich Schöndorf nicht bereit ist, die Aktendeckel zu schließen und den juristisch abgeschlossenen Fall noch einmal auf andere Weise aufrollt, beweist, daß es richtig war, ihn seinerzeit mit zu ehren.
Ich benutze noch einmal eine Figur Kafkas, den Landvermesser K. Im Roman „Das Schloß“ muß er, wie die anderen Protagonisten auch, sein Leben unter dem Einfluß unzugänglicher Gesetze verbringen, findet aber keinen Einlaß in die Trutzburg, in der diese beschlossen und ausgelegt werden. Schöndorf schafft es mit dem vorliegenden Buch, den Leserinnen und Lesern Einblick in die Abläufe innerhalb dieser ganz real existierenden Trutzburg zu vermitteln und sie zu erklären. Dadurch nimmt unsere Risikogesellschaft erkennbar Gestalt an, zeigt nicht nur ihr hauptsächlich von der Chemieindustrie schön geschminktes Gesicht, sondern auch ihren von skrupellosen Geschäftemachern und „Halsabschneidern“ verdorbenen Charakter, ihre fein ausgetüftelten, kaum greifbaren Macht- und Herrschaftsverhältnisse, ihre letztlich gewalttätigen Strukturen, deren Funktionen und fatale Folgen.
Der engagierte Staatsanwalt Schöndorf macht den Holzschutzmittel-Skandal zum herausragenden Studienobjekt für alle nur denkbaren aktuellen und künftigen Fälle, in denen - mit Ulrich Becks Worten - " mit Gesetzen überfütterte, offiziell gegenläufig programmierte Justiz mit ihren hochgestochenen bürokratischen Rechtsansprüchen nahezu perfekt Alltäterherrschaft in Freispruch verwandelt.“ Wie ein solcher "Freispruch" aussieht läßt sich auch an dem im August 1998 in Frankfurt am Main geplatzten Giftmüllschieberprozeß studieren, bei dem es um Zehntausende Tonnen gepanschten Altöls ging. Die illegale Entsorgung und Korruption (es flossen rund 630.000 Mark Bestechungsgelder) rechtfertigte es nach Ansicht der Richter nicht, die Angeklagten in Untersuchungshaft zu halten. Nach Auffassung der Frankfurter Staatsanwaltschaft, die den Gerichtsentscheid anfechten will, sind laut Spiegel (Nr. 33/98) die Richter „in die Erhebung der Sachbeweise aus unerfindlichen Gründen bisher ernsthaft nicht eingetreten“ und daher befangen. Wie übrigens auch der Gutachter, der den Angeklagten die ordnungsgemäße Entsorgung der toxischen Coctails bescheinigte.
Der von der Justiz, den öffentlichen und privaten Meinungsproduzenten als erledigt behandelte Holzschutzmittel-Skandal kann - wie uns dieses Buch (Von Menschen und Ratten) frei von Pathos nahebringt - als ein Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes mit Langzeitfolgen für Generationen betrachtet werden; vielleicht als eine besondere Art von Giftgasanschlag auf Millionen von Menschen und deren Nachkommen. Wer wie Schöndorf einen solchen Fall von moderner Brunnenvergiftung, der friedliche Bürgerinnen und Bürger, die sich ein Heim schaffen wollten, ihrer Gesundheit beraubt, gründlich und aus den verschiedensten Perspektiven und Problemebenen beschreibt und analysiert, hat höchste Aufmerksamkeit verdient. Aber die großen Verlage tun sich schwer, ein so brisantes Buch auf den Markt zu bringen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch das Engagement des in Umweltfragen erfahrenen Verlages „Die Werkstatt“ hervorheben. Solange sich Politiker weigern, den Begriff der inneren Sicherheit auch mit wirtschaftskrirninellen Bereicherungspraktiken in Verbindung zu bringen und hier die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, sind derlei publizistische Aktivitäten nicht hoch genug einzuschätzen.
Ich versuche seit vielen Jahren vergeblich, vor allem Wissenschaftler, Politiker und seriöse Journalisten dazu zu bewegen, sich der Problematik anzunehmen. Insbesondere bemühe ich mich, den Begriff der Wissenschaftskriminalität gesellschaftsfähig zu machen. Die öffentliche Anerkennung dessen verhängnisvoller Rolle könnte den Zwang verstärken, den wegen ihrer Hochspezialisierung zu Aufklärungsmonopolisten aufgestiegenen Forscher und Gutachter endlich die Offenlegung ihrer Abhängigkeiten abzuverlangen. Die Gesellschaft muß wissen, wer wissenschaftliche Arbeit zu welchen Zwecken und mit welchen Zielen finanziert, welche Abhängigkeiten zwischen Wirtschaft und Wissenschaft existieren und wie sie sich auf die Durchsetzung von Interessen bis hinein in die vermeintlich so unabhängige Justiz auswirken.
Es ist ein nur schwer zu erklärendes Phänomen, daß sich angesichts der Fülle wirtschaftskrimineller Praktiken ein Klima der allgemeinen Oberflächlichkeit und Lethargie ausbreiten konnte. Dabei beweist dieses Buch von Schöndorf eindrucksvoll, daß keineswegs jegliche Umweltzerstörung auf das Konto der Gesamtheit der Suizidgesellschaft gebucht werden kann. Vielmehr müssen bestimmte Umweltverbrechen eindeutig jenen zur Last gelegt werden, die ihre unternehmerische Entscheidungsfreiheit - auf der sie gegenüber sozialstaatlicher Demokratie, Arbeitnehmern, Gewerkschaften und nichtstaatlichen Organisationen mit aller Härte bestehen - auf kriminelle, zumindest aber in hohem Grade verantwortungslose Art mißbrauchen.
Bezieht man in den Klimabegriff auch Mikroklimata in dem Sinne ein, daß die Luft in unseren Wohn- und Schulräumen sowie öffentlichen Gebäuden davon mit erfaßt wird, so gewinnt das Wort Klimakatastrophe eine noch brisantere Bedeutung. Noch einmal unser Schweizer BCC-Mitglied und Autor Peter Fahr, der treffsicher formulierte: „Das Klima der allgemeinen Oberflächlichkeit und Lethargie ist die eigentliche Klima-Katastrophe dieser Zeit." Das Buch von Erich Schöndorf ist ein Schritt, dieser Geisteshaltung ein Ende zu bereiten.
Er erblickte am 19. April 1934 in Thun, einer Kleinstadt der deutschen Schweiz, das Licht der Welt. Der Junge wurde in eine etablierte, angesehene Familie hineingeboren und fand somit alle Voraussetzungen vor, die man in der Schweiz braucht, ein gutbürgerlicher Kantonist mit jener „eingemitteten Moral“ zu werden, die vielen Schweizern eigen ist. Längere Zeit sah es so aus, als ob sich auch bei Hans Ziegler der selektierende Sozialdeterminismus durchsetzen würde, den das typische Leben in kapitalistischen Klassengesellschaften Kindern bereithält. Die einen sind und bleiben frei von Eigentum, müssen sich „verdingen“, die anderen genießen Eigentumsfreiheit, sind also nur verantwortlich dafür, ob sie diese Freiheit sinnvoll benutzen. Was sinnvoll ist, bestimmen sie.
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Zu gut für eine bürgerliche Karriere
Ziegler trat zunächst in die Fußstapfen seines Vaters, der Gerichtspräsident war, und studierte, gleich in mehreren Staaten, auch in den USA, Rechtswissenschaften. Schon während seines Studiums wurde deutlich, dass er – obgleich noch mit einem Fuß im bürgerlichen, d.h. antisozialistischen, Lager – auf diesem Entwicklungspfad nicht glücklich werden würde. Er war ein allzu kluger, eigenwilliger und kritischer Kopf, als dass er es übers Herz gebracht hätte, für eine bürgerliche Karriere, als Anwalt bürgerlicher Interessen, sein Leben zu verschwenden. Es ist hier nicht der Ort, dieses Leben zu erzählen. Man findet im Internet so viele Interviews und Berichte, dass man nicht einmal die bisher einzige Biografie gelesen haben muss, die existiert. Der Wirtschaftsjournalist Jürg Wegelin hat sie unter dem Titel „Das Leben eines Rebellen“(bei Nagel & Kimche im Hanser Verlag München, 2011) veröffentlicht. Aus ihr ist genug über Ziegler und sein Wirken zu erfahren.
Wer dennoch Bedarf nach tieferen Einblicken in dieses Leben hat, dem seien Zieglers sehr persönlich gehaltenen Bücher „Die Lebenden und der Tod“ sowie „Ändere die Welt – Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen“, empfohlen. An dieser Stelle halte ich es für ausreichend, an die große Bedeutung Jean Zieglers für meine eigene politische und wissenschaftliche Arbeit und Entwicklung zu erinnern. Vor allem an seinen starken Einfluss auf mein Interesse an Themen und Problemen der Wirtschaftskriminalität. Es wurde aus den gemeinsamen Interessen eine Freundschaft, für die ich ihm sehr dankbar bin. In den frühen 1960er Jahren, als ich mich – noch Student und Doktorand bei Wolfgang Abendroth – erstmals unter demokratietheoretischen Vorzeichen mit der Macht der Konzerne befasste und in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ (Nr. 5/1969) einen Aufsatz über die „Mitbestimmung als Weg zur Selbstbestimmung“ veröffentlichte, stand mein Denken noch ganz im Zeichen der damals vom Ost-West-Antagonismus beeinflussten marxistischen Kapitalismuskritik. Von Jean Zieglers generativer Soziologie hatte ich noch nichts gehört und nichts gelesen.
In meinem zweiten Aufsatz für die „Blätter“ (Nr.7/1983), unter der ebenfalls demokratietheoretisch gemeinten Überschrift „Die gekaufte Demokratie“, beschäftigte ich mich intensiv mit dem sog. Flick-Parteienspendenskandal. Aber obwohl ich das 1976 erschienene Buch von Jean Ziegler, „Eine Schweiz – über jeden Verdacht erhaben“, kannte, es meine ganze Aufmerksamkeit auf die wirtschaftskriminelle Dimension der Ökonomie gelenkt und mich dahingehend beeinflusst hatte, meine Kapitalismuskritik auf den Bereich illegaler Parteienfinanzierung auszudehnen, hatte ich noch Hemmungen, mich auf ihn zu berufen. Denn Ziegler galt in Kreisen westdeutscher Marxisten als Antikommunist. Obgleich ich (wie Ziegler) damals als marxistischer Sozialdemokrat aktiv war – lehnte ich den im Kalten Krieg zur Religion der christlichen Kapitalistenknechte verkommenen Antikommunismus ab. Kritik am Kommunismus, am sowjetischen wie am maoistischen, war für mich selbstverständlich notwendig, wenn sie nicht dogmatisch antikommunistisch war! Nicht zuletzt, weil neben der bürgerlichen Rechten auch die dogmatischen Kommunisten linke Sozialdemokraten, demokratische Sozialisten, als „Revipack“, als Revisionisten, bekämpften.
Die Auflösung der bipolaren Weltordnung
Dass der linke Flügel der SPD damals von CDU/CSU und Teilen der FDP, aber auch dem rechten Flügel der SPD selbst, als Wegbereiter des Stalinismus verteufelt wurde, war für mich Grund genug, mit Thomas Mann den Antikommunismus als „Grundtorheit des 20. Jahrhunderts“ zu bekämpfen, wo immer er sein Unwesen trieb. Aber was sollte man machen, wenn Kommunisten demokratische Sozialisten bekämpften, als hätten sie nicht längst den verhängnisvollen Vorwurf wieder verworfen, Sozialdemokraten seien Sozialfaschisten? Erst mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus, also ab 1990, mit der Selbstauflösung vieler Kommunistischer Parteien Europas, löste sich auch dieser beschämende Widerspruch zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten allmählich auf. Jetzt schien es mir höchste Zeit, dem Kollegen Jean Ziegler einen persönlichen Besuch abzustatten. Er empfing mich in seinem Büro in der Universität Genf freundlich und gesprächsbereit, obgleich er damals schon von Sorgen geplagt wurde, von denen ich erst erfuhr, als ich wieder zuhause war. Er sah nämlich einer ganzen Reihe von Prozessen entgegen, die die von ihm in seinem Buch „Die Schweiz wäscht weißer – Die Finanzdrehscheibe des internationalen Verbrechens“ als „Halunken“ und „Geyer“ angeprangerten Geschäftsleute wegen Ruf- und Geschäftsschädigung gegen ihn angestrengt hatten und die er allesamt verlor. Wenige Jahre später erwiesen sich die Vorwürfe Zieglers als berechtigt. Die ihn verklagt hatten, wurden nämlich selbst verklagt und verurteilt.
Wir tauschten damals Informationen aus und kamen überein, in Kontakt zu bleiben und unsere Aktionen gegenseitig zu unterstützen. Ich versuchte nach diesem Treffen, als ich von den Prozessen erfuhr, eine Solidaritätskampagne zu organisieren, Geld zu sammeln, um ihm auch materiell beizustehen, aber er wollte das nicht. Als ich ihn später in Bern im Parlamentsgebäude wieder traf, er nahm gerade an einer Ausschusssitzung teil, die er für unsere Gespräch verließ, hatte ich schon zusammen mit Freunden die gegen Wirtschaftsverbrechen gerichtete Bürger- und Menschenrechtsorganisation Business Crime Control gegründet. Dieses zweite Treffen mit Ziegler ergab sich also eher zufällig, weil ich von dem in Bern lebenden Schriftsteller, Poeten und Essayisten Peter Fahr zu einem Vortrag über Wirtschaftsverbrechen eingeladen worden war. Fahr hatte ich unabhängig von Jean Ziegler kennengelernt, dann aber erfahren, dass Ziegler mit dem französischen Gründer der internationalen Hilfsorganisation Emmaus, Abbé Pierre, befreundet war, und sich aktiv beteiligte, als Peter Fahrs Eltern, vor allem sein Vater, in der Schweiz Emmaus-Filialen gründeten.
Ich erfuhr bei diesem zweiten Treffen von Ziegler, dass er zu jener Zeit stark an den Entwicklungen der Staaten des zusammengebrochenen Ostblocks interessiert war, vor allem am „Organisierten Verbrechen“ (OK), das schon vor, aber besonders während der Abwicklung der Planwirtschaften Ausmaße angenommen hatte, die in bürgerlichen Kreisen der westlichen Welt die erhofften und durch gigantische Kapitalströme geförderte Wirtschaftstransformation hin zu sozial abgefederten kapitalistischen Demokratien die schlimmsten Befürchtungen aufkommen ließen. Nicht nur für die postkommunistischen Staaten, auch für das Schweizer Bankensystem. Daher hatte Ziegler damals nur ein begrenztes Interesse am Thema „Wirtschaftskriminalität“ in kapitalistischen Demokratien. Als 1998 sein Buch „Die Barbaren kommen – Kapitalismus und Organisiertes Verbrechen“ (bei Bertelsmann) erschien, das er zusammen mit Uwe Mühlhoff und weiteren Mitarbeitern verfasste, konnte man dort (S.54-56) auch meine These nachlesen, zu der ich noch heute stehe, dass eine klare Abgrenzung zwischen Wirtschaftskriminalität und OK eigentlich gar nicht möglich sei, und wenn, dann nur, wenn man bei ersterer Gewinne aus kriminellen Geschäften als Nebeneinnahme bzw. Extraprofite begreife, sie aber bei OK als Hauptprofitquelle erkenne.
Ziegler erkannte klar, dass sich bei dieser Betrachtung eine brisante politische Frage aufdrängte, nämlich die, ab welchem Prozentsatz illegaler Gewinne die Kriminalität der legal wirtschaftenden Unternehmen in Organisierte Kriminalität umschlägt. Mit diesem Problem befasste er sich aber nicht, sondern „ausschließlich mit dem grenzüberschreitenden, organisierten Verbrechen“. Er betonte jedoch: „Ich halte die Wirtschaftskriminalität keinesfalls für ein unbedeutendes Phänomen. Sie richtet schreckliche Verwüstungen in den Volkswirtschaften Westeuropas an und schädigt jeden einzelnen von uns beträchtlich. Die Wirtschaftskriminalität, deren Auswirkungen noch immer von vielen verkannt werden und die leider noch zu wenig erforscht worden ist, bereitet zudem den Boden für eine weitere Schwächung unseres sozialen Immunsystems und damit für die organisierte Kriminalität. Schließlich sind die Übergänge zwischen beiden Kriminalitätsformen, da auch die organisierte Kriminalität auf die Unterwanderung der legalen Wirtschaft gerichtet ist, fließend. Nicht auszudenken sind schließlich die Folgen, wenn sich diese Formen der Kriminalität dauerhaft verbinden sollten.“
Die Globalisierunng der kapitalistischen Demokratie
Wer Zieglers später erschienene Bücher, „Wir lassen sie verhungern“, „Der Hass auf den Westen“, „Die Schande Europas“, um nur drei von vielen zu nennen, liest, die sich vor allem mit dem Hunger im globalen Süden, in Südamerika, Afrika und Südostasien, aber auch den Ursachen und fatalen Folgen befassen, nicht zuletzt der durch Not, Elend und Umweltzerstörung erzwungenen Massenmigration, wird erkennen, dass die Verbindungen beider Formen von krimineller Ökonomie längst zu einem globalen Untergrundkapitalismus, einem System, weiterentwickelt wurden, das besser zu funktionieren scheint als der regulierte Kapitalismus der liberalen und sozialen Demokratien. Was Ziegler 1998 noch als „nicht auszudenken“ bezeichnete, ist nun, ein Vierteljahrhundert später, auch von vielen kapitalabhängigen Kriminologen erkannte, wenn auch nicht explizit anerkannte, Realität.
Vor allem jene Länder des globalen Südens bekommen die Folgen dieses in den demokratischen Standortstaaten legitimierten räuberischen Kapitalismus zu spüren, weil sie nicht in der Lage sind, sich gegen die gewaltige, notfalls gewaltätige, finanzielle Übermacht, den Finanzlawinen der Investoren kapitalistischer Demokratien, vor allem der USA und der von dieser noch abhängigen Europäischen Union, zu schützen. Denn der freiheitlich-demokratische "Westen" schafft mit allen nur denkbaren polizeilichen, militärischen, geheimdienstlichen, medialen, kulturellen und staatsoffiziellen Mitteln der „Entwicklungshilfe“ die Rahmenbedingungen, die die gigantischen Kapitalgesellschaften, global operierenden Finanzhaie, Oligarchen und Industriekonzerne bei ihren Aufkäufen von Land, Leuten und Industrien schützen und unterstützen. Diesem systemisch überlegenen Druck konnten bisher nur die Russische Föderation und das (noch!) von Kommunisten beherrschte, aber längst kapitalistische und imperialistische China widerstehen.
Mit dem Ende der kommunistischen Entwicklungsdiktaturen in den Otblockstaaten entstanden daher kapitalistische Demokratien und Diktaturen. Das Ende der kommunistischen Herrschaft und deren Ablösung durch eine kapitalistische Diktatur steht nach meiner Prognose in China noch bevor. Doch schon jetzt prallen – wie der gegenwärtige russische Krieg gegen die Ukraine beweist und die Taiwanfrage erahnen lässt – die Interessen der großen kapitalistischen Demokratien und die ihrer kleineren Bündnispartner mit aller Wucht auf die postkommunistisch-kapitalistischen Diktaturen. In der Ukraine finden mörderische Materialschlachten statt, unter denen nicht nur Menschen und Kulturgüter, sondern ganze Landschaften und Sozialsysteme vernichtet und die Kämpfe um Erreichung der Klimaziele ad absurdum geführt werden.
Daher können alle noch so ernsthaften Bemühungen um den Erhalt des Friedens und der Rettung der Gattung Mensch vor einer globalen Klimakatastrophe als sinnlos betrachtet werden, wenn es den demokratischen Kräften nicht sehr schnell und breitenwirksam gelingt, kriminalpräventive Kontrollsysteme zu etablieren, die Konzernherrn und Konzernherrinnen, Investoren und Kapitalstrategen in Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Kulturunternehmen zwingt, sich den notwendigen Gesetzen und der konsequenten Rechtsprechung zu beugen, ihnen nicht länger auszuweichen, oder, was in solchen Fällen auch befürchtet werden muss, rechtsextreme gesellschaftliche Kräfte an die politischen Schalthebel zu bringen, die dann die richtige, das heißt rechte, „Ordnung“ durch Zerschlagung der demokratischen Sozialstaaten wieder herstellen.
Man braucht gar nicht mehr an die älteren Beispiele, an Napoleon den Dritten, an Mussolini, an Hitler, Franco und Salazar zu erinnern, es genügt, dass es schon wieder Berlusconis, eine BCCI, eine Bank of Credit and Commerce International, Bophal, den Holzschutzmittelskandal, Dieselgate, Fukushima und Contergan, Glyphosal und eine steil ansteigende Erderwärmung, Cum-Ex, Wirecard, Erdogan und Donald Trump gibt. Erinnert sei auch an die jüngste Schweizer Bankenkrise, die dazu führte, dass eine der größten Skandalbanken der Welt, die Crdit Suisse, von einer noch größeren, der UBS, für lumpige drei Milliarden geschluckt wurde. Wohin das führen wird? Das sind hier nur einige Wegmarken, die uns daran erinnern, wovor uns der welterfahrene alte Mann, Jean Ziegler, seit Jahrzehnten warnt. Ja, er ist inzwischen ein alter weiser Mann, der aber im Kopf so jung geblieben ist, wie die neuerdings wieder einmal weltweit erwachende Jugend, die er mit großer Zuversicht beobachtet und die ihm Hoffnung gibt.
Auch das private ist nicht frei von Politik
Zieglers reale Lebensgeschichte ist spannender als jeder Abenteuer- und Kriminalroman, lehrreicher noch als die kritischsten der Modephilosophien unserer als zu Unrecht als Lifestile-Linke belächelten Intellektuellen. Diese Geschichte kann hier nicht erzählt werden. Wer Ziegler näher kennenlernen will, sollte einfach seine Bücher lesen. Auch die Biografie, die der Wirtschaftsjournalist Jürg Wegelin 2011 im Carl Hanser Verlag München veröffentlichte, ist, wenngleich sie Ziegler in manchen Teilen nicht gefällt, auch nicht gerecht wird, durchaus lesenswert. Sie ist kritisch, aber an Zieglers Selbstkritik reicht sie nicht heran. Für ihn ist – ungewollt – auch das Privatleben nicht unpolitisch. Mindestens ebenso spannend und lehrreich wie die Biografie ist das 2019 erschienene Jubiläumsbuch aus der edition 8 (Zürich), das unter den Titel "Jean Ziegler - citoyen et rebell. Der lange Weg von Thun nach Genéve pour un monde plus juste“. In dieser Hommage haben 28 namhafte Autoren verschiedener Nationen die vielen Seiten diesen Mister Universums, des UNO-Sonderberichterstatters und radikalen Menschenrechtlers, beleuchtet, die man in einer Biografie, die noch geschrieben werden muss, undbedingt berücksichtigen sollte.
Aus Rücksicht auf die Länge dieser Gratulation kann hier das wichtigste dieses an Ereignissen und Erfahrungen, an geistigen Leistungen und bedeutenden Begegnungen so reichen Lebens nicht behandelt werden: Jean Zieglers Privatleben, die große Rolle, die seine Frau Erica, sein Sohn Dominique und sein Enkel Theo, er hat noch vier weitere, aber auch sein Glaube für ihn spielen. Er ist nämlich nicht nur ein äußerst kritischer Sozialwissenschaftler, er gehört auch zu der sicher noch immer kleinen Minderheit von Menschen auf diesem Globus, die einen Widerspruch in sich vereinen, mit dem ich mich – seit ich politisch denke – immer wieder befasst habe. Nämlich mit dem Widerspruch von Christentum und Kommunismus. (Ich verweise auf das Stichwort „Religiöser Sozialismus“ bei Wikipedia, auch wenn es eher ein unzulängliches Fragment ist, um Platz zu gewinnen.) Die marxistische Philosophie diskutiert das Thema unter anderen Begriffen: Sie spricht über das Verhältnis von Idealismus und Materialismus. Ich habe mich mit diesem Problem schon in meiner Jugendzeit befasst, denn ich erlebte – wie Jean Ziegler Jahrgang 1934 – nicht nur den Faschismus und Weltkrieg, sondern auch den Kalten Krieg. Schon damals verstand ich nicht, weshalb das Christentum und der Sozialismus bzw. Kommunismus als unvereinbare Gegensätze galten und sich bekämpften.
Ziegler – Repräsentant eines demokratischen Kommunismus
In den meisten Religionen, mit denen ich mich daraufhin befasst habe, glaubte ich substanzielle Urformen sozialistischer Lebensdeutungen und Lebensentwürfe erkannt zu haben. Übten denn nicht beide Weltanschauungen harsche Kritik an den Reichen? Ergriffen sie nicht Partei für die Armen, Entrechteten, Ausgebeuteten, Versklavten, Vertriebenen, Heimat- und Obdachlosen, Hungernden und Kranken? Weshalb sollte der Glaube eines Mannes wie Jean Ziegler, der sein Leben den Armen, dem Kampf gegen Hunger und Krankheit gewidmet hat, in Zweifel gezogen werden, wenn er offen bekennt: „Ich bin Kommunist und glaube an Gott“. Ich lese gerade das neue Buch von Friedrich Martin Balzer über „Berufsverbote in der Kirche“. Darin geht es um den 1931 in die KPD eingetretenen protestantischen Pfarrer Erwin Eckert, der seinen Glauben beibehielt, aber dennoch von seinen Kirchenoberen, die selbst fast alle den heraufziehenden Faschismus unterstützten und Hitler wie einen neuen Messias anbeteten, gefeuert wurde.
Müssten nicht, statt kommunistischer Pfarrer und Wissenschaftler, vielmehr die sich als Christen aufspielenden Reichen, Kapitalisten,
Spekulanten, Raubritter des Kapitals, Preistreiber, Landräuber und Umweltzerstörer, überhaupt die bigotten Parteichristen, und zwar im Namen Gottes, von den Kirchen bekämpft werden? Ich frage das
nur. Denn Gott hat mich schon lange verlassen. Und ich kämpfe politisch für einen demokratischen Sozialismus, der den demokratischen Kommunisten nicht bekämpft, sondern demokratiefeindliche
Kommunisten davon zu überzeugen versucht, dass der Fortschritt am ehesten in einzelnen Schritten erzielt wird. Auch wenn die notwendige Revolution gelingt, sollten die Errungenschaften der
bürgerlichen wie der sozialistischen Aufklärung verteidigt werden. Vor wem? Vor denen, denen sie egal sind und die die private Bereicherung allen anderen menschlichen Zielsetzungen vorziehen. Ich
weiß, dass das eine Utopie ist. Daher beneide ich Menschen wie Jean Ziegler, die Glauben können und Glaubensschwachen wie mir immer wieder Mut machen und Hoffnung geben können.
Mögest Du, lieber Jean, uns Ungläubigen noch lange erhalten bleiben und mit Deinen Büchern, Vorträgen und Zeitungsartikeln Mut machen und Hoffnung geben.
Noch ein paar wichtige Hinweise:
Jean Ziegler war lange Zeit Mitherausgeber der von mir gegründeten Vierteljahreszeitschrift BIG Business Crime. Die Zeitschrift erscheint heute als Inlett von
Stichwort Bayer, der Zeitschrift der Coordination gegen Bayer-Gefahren. Jean Ziegler erhielt von der Stiftung Ethecon, die mit dem Internationalen ethecon Blue Planet Award 2012 „die mächtigste
Stimme gegen den Hunger“, Jean Ziegler ehrte. Auf der Website von Ethecon ist auch meine Laudatio auf Jean Ziegler anläßlich dieser Preisverleihung nachzulesen. Sie handelt von Ziegler und der
durch ihn angeregten Idee einer „dritten Aufklärung“. Außerdem existieren zwei Schriftsätze von mir, in denen Jean Ziegler für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde. Es kam aber nur zur
Nominierung. Zum Problem Christentum und Kommunismus wird in absehbarer Zeit ein Essay über Erwin Eckert auf meiner Website erscheinen, in der auch auf Jean Ziegler Bezug genommen wird. Jean
Ziegler schreibt für die Schweizer Gewerkschaftszeitung eine Kolummne, die ich allen an seinen Gedanken und Analysen Interessierten empfehle.
Sie wurde 97 Jahre alt. Mit Stolz hätte sie schon vor Jahren auf ihre Lebensleistung verweisen und sich, die neueren Entwicklungen kritisch beobachtend, zurücklehnen können. Aber um Stolz zu zeigen, war sie zu bescheiden, und zurücklehnen kam gar nicht in Frage. Dazu war sie bis zur Verausgabung ihrer letzten Kräfte viel zu stark gesellschafts- und kulturpolitisch engagiert.
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In ihren verschiedenen Wirkungskreisen, also nicht nur im Rahmen ihrer Arbeit als Journalistin, war sie weit über Hanau hinaus eine hochgeschätzte Persönlichkeit. Weit mehr noch. Sie war eine
respektable und durch zahlreiche Ehrungen, darunter das Bundesverdienstkreuz erster Klasse und die Willy-Brandt-Medaille, gewürdigte Institution. Vor allem machte sie sich – und dies über viele
Jahrzehnte – einen Namen als brillante, gewissenhafte, und das hieß für sie, unbestechlich-kritische Journalistin. Sie wurde das Gesicht und moralische Gewicht der damals noch von der
Gründergeneration geprägten, teils linkssozialdemokratischen, teils linksliberalen Frankfurter Rundschau. Ilse Werder gründete deren Hanauer Lokalredaktion und prägte in der Region ganz
entscheidend deren Profil.
In dieser Zeit, ab den 1960er Jahren, gab es im Hanauer Raum zahlreiche, verharmlosend als „Skandale“ bezeichnete, schwere Wirtschaftsverbrechen. Sie sorgten bundesweit für großes Aufsehen, ja
größte Aufregung. Es kam zu spektakulären Gerichtprozessen und sogar zu Gesetzesänderungen. Erinnert sei an den Fall „Plaumann“ in den 1970er Jahren. Plaumann beging schwere Umweltverbrechen. Er
war ein Hanauer Fuhrunternehmer, der sich auf illegale Entsorgung industrieller Giftabfälle spezialisiert hatte und bundesweit, vor allem jedoch im Kreis Hanau, sehr große Mengen hochgefährlicher
Abfälle, rechtswidrig, hochkriminell, in Landschaften, Flüssen, Seen und Kanälen verschwinden ließ.
Erinnert sei auch an das Umweltverbrechen der Atom-Müll-Entsorgungs-Firma Transnuklear, die verseuchte Abfallstoffe der Firma Nukem illegal – also kostensparend und gewinnbringend – aus dem legalen Wirtschaftskreislauf herausnahm. Diese beiden Firmen gehörten dem als seriöses Unternehmen geltenden Chemiekonzern Degussa AG und dem ebenso angesehenen Energiekonzern RWE. Es stellte sich heraus, dass die Manager der Konzerne das scheinbar unabhängige und schwerkriminelle Unternehmen Transnuklear selbst gegründet hatten. In diesem Zusammenhang kam es zu zwei Suizidfällen, von denen der, der sich in der Hanauer U-Haft ereignete, bis heute nicht zweifelsfrei aufgeklärt ist. Alles nachzulesen im Internet.
Zu einem weiteren Eklat im Raum Hanau, und zu einem Loyalitätskonflikt Ilse Werders, kam es, als der SPD-Bundestagsabgeordnete Gerhard Flämig überführt wurde, seine Lobbyarbeit für die Hanauer Atomindustrie der Bundestagsverwaltung verschwiegen zu haben. Denn schon damals waren die Abgeordneten verpflichtet, ihre Nebentätigkeiten offenzulegen. Aber Ilse Werder war vor allem Journalistin, sie konnte hart gegen sich selbst, aber auch gegen ihre Partei, die SPD, sein, wenn es darum ging, die sozialdemokratischen Inhaber politischer Ämter an ihre Plichten und Versprechen zu erinnern. Wünschenswert wäre, wenn die journalistische Arbeit von Ilse Werder einmal gründlich erforscht und dokumentiert würde. Das wäre ein wichtiger Beitrag zur Hanauer und deutschen Sozialgeschichte.
Ilse Werders Zeit als FR-Redakteurin war die Zeit, als der Hanauer Anzeiger, die älteste Zeitung Deutschlands, ein lupenreines Parteiorgan der CDU war. Der Journalist Dieter Weirich, zuerst Funktionär der Jungen Union, dann Anhänger und engster Mitarbeiter der Hessischen CDU-Granden Dr. Alfred Dregger und Manfred Kanther, die die so genannte „Stahlhelmfraktion“ ihrer Partei anführten und heute wahrscheinlich der AfD nahestehen würden, hatte damals als Journalist des Hanauer Anzeigers der noch relativ links stehenden Sozialdemokratie in Stadt und Landkreis Hanau den offenen Klassenkampf erklärt.
Reserveroffizier und Journalist Weirich war der direkte Widersacher der FR-Lokalredakteurin Ilse Werder, die dem aggressiven CDU-Kurs des Hanauer Anzeigers mit ihrer eigenen Kritik an den Verhältnissen ein ernsthafter Konkurrent war. Das gelang ihr, indem sie den SPD- Mehrheiten in Hanau Stadt und Land auf ihre Weise, nämlich durch scharfe Kritik von links, unerschrocken Paroli bot. Dieter Weirich profilierte sich als erfolgreicher Sozialistenbekämpfer und bereitete so seine Kalte-Kriegs-Karriere vor. Über ein Jahrzehnt war er Intendant der Deutschen Welle, wurde später Buchautor, Unternehmer und Honorarprofessor. Bei Wikipedia sind seine „Verdienste“, die er sich hauptsächlich um die Privatisierung des Fernsehens und um andere neoliberale Projekte und Errungenschaften erwarb, sowie seine hohen Ehrungen und vielen Karrierestufen aufgelistet.
Der alleinerziehenden Mutter von drei Töchtern und einem Sohn, Ilse Werder, eröffneten sich solche Karriere-Chancen nicht, obgleich ihre Leistungen mindestens ebenso wertvoll für die Gesellschaft, aus meiner Sicht viel wertvoller, waren. Ilse Werder dachte aber nicht an ihre Karriere. Sie befasste sich mit den akuten Problemen, die wir unter dem allzu weiten Begriff „Frauenfrage“ diskutieren. Ihr schenkte sie größte Aufmerksamkeit. Sie hatte August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ nicht nur gründlich gelesen, sondern auch richtig, nämlich gesellschaftspolitisch, verstanden. Und da ihre Geburts- und Heimatstadt Kassel war, wo sie als Sozialdemokratin, noch für das Rechtsanwaltsbüro ihres Mannes arbeitend, viele Menschen kannte, kannte sie auch die durch ihre Verfassungsdebatten bundesweit berühmt gewordene Elisabeth Selbert persönlich. Selbert hatte bekanntlich den Satz im Grundgesetz verankern lassen: „Mann und Frau sind gleichberechtigt“.
Ilse Werder nahm diesen Satz so wörtlich, wie er gemeint war. Er war ihr Lebensmotto und bestimmend für ihr Berufsethos. Er war ihre Legitimation für den Kampf um die gleichen Rechte der Frauen. Dabei vergaß sie nie, dass es über die Frauenfrage hinausgehrende Werte gibt: Die Natur, die Kenntnis über deren Rolle für Nahrung, Gesundheit und ästhetische Erziehung des Menschen, auch für unsere ästhetische und moralische Bildung und Frieden. So hat sie in einer Zeit, in der Gespräche über Bäume, über „Ozonlöcher“, „sauren Regen“ und „Waldsterben“ fast ein Verbrechen waren, mit künstlerischen Mitteln, nämlich Fotografien, die Schönheit der Bäume festgehalten und ihre Bilder in der damals neu gegründeten Hanauer Kunstgalerie Hild in einer sehr eindrucksvollen Ausstellung vorgestellt. Ich hatte die Ehre und das Vergnügen, dazu den einführenden Vortrag zu halten.
In diesem Zusammenhang findet sich auch das Motiv der Gründung des Hanauer Kulturvereins. Der schon lange nicht mehr unter uns weilende Lehrer und Hanauer Stadtverordnete Hubert Zilch, die FR-Redakteurin und Fotografin Ilse Werder und ich, der ich als Struktur- und Sozialplaner des Landratsamtes Hanau auch die kulturelle Infrastruktur immer im Auge hatte, kamen nicht ganz zufällig auf die Idee, einen Verein zu gründen, der vor allem die wichtige Geschichte der Hanauer Arbeiterbewegung lebendig halten sollte. Allerdings sollte er auch für ein stärkeres, eher alternativ zu den bürgerlichen Vereinen, kulturelles Leben für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ermöglichen.
In Ilse Werders linkssozialdemokratischer, also auch gewerkschaftlicher Arbeit verbundener Tradition, dazu ihrer angespannten Familiensituation, sind die starken Wurzeln für ihr aktives Engagement in der Frauenbewegung zu finden. Sie war immer ganz vorn dabei, sowohl bei der Gründung der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF), von der dann auch die Gründer des Verbraucherschutzes und des Hanauer Kulturvereins ihre stärksten Impulse empfingen. Ilse Werder stand immer mit an der Spitze.
Als sie in den so genannten Ruhestand trat, wurde sie die erste Chronistin der Geschichte der Arbeiter- und der Frauenemanzipation der Region Hanau, Gelnhausen und Schlüchtern. Bisher hatten sich auf diesem Feld nur Männer hervorgetan. Die Region, die schon vorher ein SPD-Unterbezirk war, wurde in den 1970er Jahren bei der Gebiets- und Verwaltungsreform zum Main-Kinzig-Kreis und Gelnhausen der neue Sitz des Landratsamtes. Veränderungen, die ihren Aktionsradius für ihr sozialgeschichtliches und kulturpolitisches Engagement erweiterten. Denn der Main-Kinzig-Kreis ist einer der größten Kreise der Bundesrepublik Deutschland.
Ilse Werder war als alleinerziehende Mutter von vier Kindern nach Hanau gekommen. Nicht trotzdem, sondern deshalb war ihr persönliches Interesse an Politik viel umfassender, als man es von vielen anderen Journalisten und Journalistinnen gewohnt war. Sie war nicht nur besonders stark sozial- und bildungspolitisch, sie war auch kulturpolitisch und künstlerisch interessiert und engagiert. Ich hatte das große Glück, sie schon 1969 kennenzulernen und bis zuletzt eng mit ihr befreundet sein zu dürfen. Soweit mir zu Ohren kam, wir haben nie darüber gesprochen, hatte ich ihrem Einfluss zu verdanken, dass mich in der Zeit, als ich gerade mein Studium beendet hatte, der Landrat des Landkreises Hanau, Martin Woythal, zum Leiter der von ihm geplanten „Stukturabteilung“ machte, mir – dem damaligen Vorsitzenden der Jungsozialisten – die Leitung der kleinen Planungskommission für das neu zu errichtende „Klassenloses Krankenhaus“ anvertraute.
Dessen Planung wurde von den Konservativen und Chefärzten erbittert bekämpft und der Bau am Ende auch verhindert. Dabei wurden fast 50 Millionen D-Mark Steuergelder verplant und in den Sand gesetzt. Von dieser persönlichen Seite aus betrachtet, habe ich Ilse Werder eine wichtige Weichenstellung für meinen eigenen beruflichen Werdegang zu verdanken. Denn nach rund 12 Jahren Berufstätigkeit als Werkzeugmacher hatte ich die Mittlere Reife an einer Abendschule und das Abitur am Hessenkolleg nachgeholt und in Frankfurt und Marburg Politikwissenschaft und Germanistik studiert. Gleichzeitig engagierte ich mich in der SPD für deren Sozial- und Bildungspolitik. Wir wurden stille Verbündete. Was sie an meiner Haltung guthieß, war, dass ich mich damals in jener noch ziemlich starken Minderheit der Hessischen Sozialdemokraten engagierte, die den Kniefall der SPD vor dem Kapital, für den vor allem das Godesberger Programm stand, durch innerparteiliche Opposition wieder rückgängig zu machen versuchte. Wie man inzwischen weiß – vergeblich. 2006 trat ich dann aus der SPD aus. Ilse Werder blieb ihr verbunden.
Sehr gut in Erinnerung habe ich Ilse Werders Kampfgeist in der Phase der Hanauer Politik, in der sie mit Hubert Zilch, mir und anderen, den Hanauer Kulturverein gründete. In diesem Verein war sie – wie in den anderen Vereinen, an deren Gründung sie maßgeblich beteiligt war – bis zuletzt aktiv. Mich haben linke Sponti-Frauen, als sie den Hanauer Kulturverein kaperten, aus dem Kulturverein hinausgeekelt. Der Begriff Mobbing war damals noch nicht in den deutschen Wortschatz eingedrungen. Aber inzwischen ist der Kulturverein wieder in guten Händen und leistet großartige Arbeit. Ilse Werder hatte inzwischen in dem Spessartdorf Katholisch-Willenroth ein Bauernhaus gekauft und „Werders Kulturscheune“ gegründet, wo sie wunderbare Sommerprogramme organisierte. Zudem entwickelte sie dort eine derart enge Bindung an die Natur, dass wir sie liebevoll „Kräuterhexe“ nannten.
Im sogenannten Ruhestand schrieb sie Bücher und nahm an vielen öffentlichen Veranstaltungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes, des Bundes der Antifaschisten und anderer sozial- und umweltkritischen Verbände teil. Sogar, als ihr das ohne Gehhilfe gar nicht mehr möglich gewesen wäre. Zuletzt sahen meine Frau, Hildegard Waltemate, und ich sie auf ihrem Geburtstag im Oktober 2022. Damals war ihre größte Sorge, ihr Augenlicht zu verlieren. Ein schwerer Schlag für einen Menschen, der hauptsächlich liest und schreibt. Danach erkrankte sie auch noch an Corona. Sie telefonierte noch mit uns, denn auch meine Frau ist bei „Frauen helfen Frauen“ und im „Archiv Frauenleben Main-Kinzig-Kreis“ engagiert. Aber es ergab sich keine Möglichkeit mehr, unsere Verabredung, uns bald noch einmal zu treffen, in die Tat umzusetzen. Wir sind sehr traurig, eine so wunderbare, liebenswerte Freundin verloren zu haben.
So empfinden es sicher auch viele andere Menschen, die sie persönlich kannten, erlebten und ihr immer dankbar sind für ihr großartiges Lebenswerk, ihre Solidarität und Freundschaft. Ihren Kindern und Enkeln gilt unser tiefes Mitgefühl. Wir versprechen, dass wir die Erinnerung an sie, ihr soziales, kulturelles, umweltpolitisches und kapitalismuskritisches Engagement wachhalten, dass wir in ihrem Sinne auch friedenspolitisch weiter arbeiten werden, solange wir das können. Sie war und bleibt Vorbild, für uns und die vielen jungen Menschen, die sich heute für eine bessere Zukunft engagieren.
Für einen demokratischen Sozialisten ist die Gleichberechtigung der Frau spätestens seit August Bebels noch immer lesenswertem Buch „Die Frau und der Sozialismus“ (Erstdruck 1879) eigentlich kein Thema mehr. Bebel, noch tief verwurzelt in der Welt des Patriarchats, selbst noch ein wenig Macho, hat es tatsächlich geschafft, ein Standardwerk über die Frauenfrage zu schreiben, das bis heute nur wenig an Aktualität verloren und meines Erachtens einen größeren Erklärungswert für die noch immer vorhadenen Ungleichheiten und deren Überwindung hat als die meisten so genannten feministischen Kritiken.
Natürlich überlegt man sich als Mann, ob es nicht Zeitverschwendung ist, sich in die laufenden Debatten einzumischen. Denn was hat man nicht schon alles publiziert, und es wurde meist von denen,
für die es geschrieben war, ignoriert. So habe ich im August 2022 für ein Sonderheft über das Thema „Armut – Die angetastete Menschenwürde“ der Zeitschrift Ossietzky einen Beitrag über die „Armut
der Reichen“ verfasst, der dann dort unter der Überschrift „Jagdgenossinnen auf die Macht“ erschien. Jetzt habe ich mir überlegt, ob es nicht besser wäre, diesen Artikel noch einmal – und eben zu
diesem Frauentag – als Newsletter zu versenden, statt einen neuen zu schreiben. Denn was ich dazu zu sagen habe und gesagt habe, wird – zum Schaden der guten Sache – um die es den meisten
benachteiligten, unterbezahlten, ausgebeuteten Frauen geht, nämlich um Löhne und Gehälter, die ein Leben ohne Not ermöglichen, um menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen, missverständlich
interpretiert. Was sich seit Jahren vor der Öffentlichkeit abspielt, spricht nicht dafür, dass sich die Verhältnisse in absehbarer Zeit grundlegend verändern. Pandemien, Kriege um Weltmärkte,
Weltmacht und Klimakrise liefern vielmehr immer wieder Argumente, den Sozialabbau und das damit einhergehende soziale Unrecht an all jenen fortzusetzen, ohne deren Arbeit das ganze System, das
sie ausbeutet, zusammenbrechen würde.
Daher die Neuauflage meines Beitrags zur Armutsfrage aus 2022:
Die teils hitzigen Debatten über Gender Diversity oder Female Leadership haben sicher dazu beigetragen, die fortbestehende Ungleichberechtigung der Frauen in unserer Wertegemeinschaft bewusster
zu machen. Allerdings geht es bei dieser Art von „Gendern“ nicht wirklich – wie manche glauben – um die Durchsetzung der Angleichung von Löhnen und Gehältern berufstätiger Frauen an die der
Männer. Auch nicht um die rechtliche und materielle Besserstellung alleinerziehender und oft bedrückender Armut ausgelieferter Mütter. Es geht, wie auch die neueste Gesetzgebung, das im Juni 2021
vom Bundestag beschlossene „zweite Führungspositionen-Gesetz“ für börsennotierte Unternehmen, um ein höchst internes Eliten-Problem. Erhöht werden soll der Anteil der Frauen in den unverschämt
hoch honorierten Entscheidungsgremien der Großwirtschaft. In den Aufsichtsräten von Großunternehmen hat sich das aus 2015 stammende erste Gesetz dazu schon bewährt. Für die Vorstände von
Börsenunternehmen wurde nun noch einmal vorsichtig nachgelegt.
Doch Female Leadership hat nichts mit dem Kampf um die Überwindung der Armut zu tun, die mit Recht als weiblich bezeichnet wird. Es geht auch nicht um die Gleichstellung der Geschlechter in
Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt, sondern um ein modernes Refeudalisierungsprogramm. Es geht um eine Gleichstellung von Herren und Herrinnen. Ein offensichtlich einflussreicher
Lobbyistinnenverband namens FidAR (Kürzel für „Frauen in die Aufsichtsräte“) kann hier schon auf einige Erfolge verweisen. Hoch qualifizierte Frauen wollen ihren Anteil an den überbezahlten
Jobs in den nach mehr als 70 Jahren Grundgesetz noch immer von Männern dominierten „Herrschaftsbereichen“. Die Konfliktlinie verläuft nicht allgemein zwischen Mann und Weib, Arbeitern und
Arbeiterinnen, sondern zwischen privilegierten Herren und privilegierten Damen, also Herrinnen, die ebenfalls nach ganz oben wollen. Es geht nicht um die Überwindung von Armut, sondern um die
Gleichberechtigung zwischen männlichen und weiblichen Eliten hoher Einkommens- und Vermögensklassen; um ein Stück von den ganz großen Geld- und Machtkuchen.
Das Armutsproblem von Frauen, wie übrigens das von Männern, das es ja auch noch gibt, bleibt von diesen Macht- und Klassenkämpfen allerdings völlig unberührt. Es dreht sich bei dieser
spezifischen Genderdebatte um die Überwindung der ungleich verteilten Verfügungsgewalt in den (trotz Mitbestimmung) systembedingt demokratiefreien Kapitalgesellschaften. Und damit auch um die
Gleichrangigkeit der Herren und Herrinnen im Bereich des Letzt-Entscheidungsrechts der Bereiche private Kapitalverwertung und private Aneignung gesellschaftlichen Reichtums. Warum reite ich auf
„Herren und Herrinnen“ herum? Als noch mittelhochdeutsch gesprochen wurde, galt das System des Feudalismus, eine auf dem Lehnsrecht aufgebaute Wirtschafts- und Gesellschaftsform, in der alle
Herrschaftsfunktionen von der über den Grundbesitz verfügenden aristokratischen Oberschicht ausgeübt werden. Leibeigene und hörige Untertanen mussten Frondienste leisten, also Herrendienste. Auch
für die adelige verheiratete Frau, die als Frouwe angesprochen wurde. Das bedeutet Herrin. Der Vertreter des später an die Macht und zur Herrschaft gelangten Bürgertum, zumal der spießige
Kleinbürger, der dem Großbürger an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht nachstehen wollte, trat natürlich gern in die Fußstapfen des Edelmanns und nannte sich ebenfalls Herr. Die Dame an
seiner Seite durfte sich wieder als Herrin fühlen und die Dienstmägde mussten sie nicht selten als „gnädige Frau“ ansprechen. Die unter der neuen, der bürgerlichen „Klassenherrschaft“
ausgebeutete, in struktureller Armut, in Elend und Unwissenheit gehaltene Masse der befreiten Hörigen und Leibeigenen wurde zu abhängigen Lohnarbeitern. Soweit sie sich danach als Arbeiterklasse
organisierten und zum Ziel gesetzt hatten, die ausbeuterische Bourgeoisie durch Enteignung zu entmachten, verstanden sie sich als Proletarier und Proletarierinnen und nannten sich untereinander
Genossen und Genossinnen. Sie taten dies im Bewusstsein, gemeinsam für das hehre Ziel zu kämpfen, das die bürgerlichen Revolutionäre einst den Armen der ganzen Welt versprochen hatten, aber, kaum
zur Macht gekommen, hemmungslos verrieten: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und die allgemeinen Menschenrechte. Auch für die Frauen.
Der Sozialdemokrat August Bebel, der die seinerzeit noch marxistische SPD führte, schrieb im Gefängnis sein bis heute lesenswertes Buch: „Die Frau und der Sozialismus“. Bebel hatte die
Schwesterlichkeit nicht vergessen. In seinem Buch ist zu lesen, was einst die SPD ausmachte und ihr Stimmen, auch Frauenstimmen, brachte: „Die volle Emanzipation der Frau und ihre Gleichstellung
mit dem Mann ist eins der Ziele unserer Kulturentwicklung, dessen Verwirklichung keine Macht der Erde zu verhindern vermag. Aber sie ist nur möglich aufgrund einer Umgestaltung, welche die
Herrschaft des Menschen – also auch des Kapitalisten über den Arbeiter – aufhebt. Jetzt erst wird die Menschheit zu ihrer höchsten Entfaltung gelangen.“ (Bebel, Die Frau, Frankfurt a.M. 1977, S.
522)
Um dieses Ziel zu erreichen, genügte das Frauenwahlrecht nicht. Auch nicht die paritätische Besetzung von Aufsichtsräten und Vorständen mit Arbeitnehmervertretern, die nach den Erfahrungen mit
dem von Wirtschaftseliten unterstützten Nationalsozialismus gegen das Großkapital durchgesetzt wurde. Und es wird sich auch nichts ändern, wenn künftig ausschließlich Frauen in Aufsichtsräten und
Vorständen die Geschäfte der Investoren betreiben. Die jüngsten Debatten und Gesetzesänderungen, so erfreulich sie für Elitefrauen sein mögen, sind für die Armutsprobleme der Frauen, die objektiv
der Arbeiterklasse angehören, die weiterhin nur die Wahl haben, ihre Arbeitskraft an einen „Arbeitgeber“ oder eine „Arbeitgeberin“ zu verkaufen, allenfalls mittelbar.
Frei gewählte Gesetzgeber kapitalistischer Demokratien können übrigens keine Garantie geben, dass Löhne und Gehälter, wenn sie denn etwas erhöht werden, nicht gleich wieder von den Reichen und
denen, die schnell reich werden wollen, durch strategische Preissteigerungen in Umsatz und Profite verwandelt werden. Denn die mächtigen „Reichen und die Superreichen“ (ich empfehle den 1969 bei
Hofmann und Campe erschienen Klassiker des US-Amerikaners Ferdinand Lundberg), haben schon immer ganz andere Sorgen, nämlich sich überall in der Welt darum zu kümmern, dass ihr Prestige, ihr
Einfluss auf Staaten, Parteien, Politiker, Wissenschaftler, Medien und natürlich ihre Profite steigen, dass also auch die leidigen Arbeitskosten (einschließlich der Lohnnebenkosten) gesenkt
werden.
Nach dem zwar nicht totalen, aber doch fatalen Sieg des Kapitals über die Arbeit, der ja nicht nur über den Ostblockkommunismus, sondern auch über die reformsozialistischen Arbeiterbewegungen des
freien Westens errungen wurde, schämen sich die parlamentarischen Handlanger und öffentlichen Sprachrohre der Reichen und der Superreichen nicht einmal, weiterhin den Antikommunismus zu schüren,
wohl wissend, dass er auch eine der stärksten Wurzeln des Antisemitismus ist. Warum? Weil sie verhindern wollen, dass „bei denen da unten“ noch einmal ein revolutionäres oder auch nur
reformsozialistisches Klassenbewusstsein entsteht. Für ihren Eigentumsschutz vor Sozialromantikern, Sozialisten und Kommunisten, Protest-, Reform- und ökologisch argumentierenden
„Verbotsparteien“ hält sich diese Klasse freiheitliche Demokratien, die sie vor der überfälligen Demokratisierung der Wirtschaft schützen; investiert sie in gewerkschaftsfeindliche Firmen, aber
auch rechte Diktaturen, die ihnen Billigstlohnarbeit garantieren; verübt sie, um Steuer-, Sozial- und Umweltschutzkosten zu senken, skrupellose Wirtschaftsverbrechen, von denen „Dieselgate“, der
„Cum-Ex-Steuercoup“ und „Wirecard“ nur die Spitzen eines monumentalen Eisgebirges sind.
Ich kann das Thema „kriminelle Ökonomie“ hier nicht vertiefen. In der Armutsforschung spielt es leider noch keine Rolle. Ich empfehle aber, die Bücher des Schweizer UNO-Beauftragten Jean Ziegler
zu lesen, der nach den Gründen für den Hunger forscht, die Ursachen für Menschenrechtsverletzungen ergründet. Er vermittelt seit Jahrzehnten eine realistische Vorstellung von den globalen
Ausmaßen und Schrecken dessen, was er als „kannibalische Weltordnung“ charakterisiert. Es ist zum Beispiel die Ordnung von Multi-Milliardär Warren Buffet, von dem folgendes Zitat überliefert ist:
„Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.“ Letzter Zweck dieses Klassensystem ist es, die kapitalistische Freiheit
vor all jenen zu verteidigen, die sie mit dem Ziel zu überwinden versuchen, die Armut und das Elend zu beenden. Wird sich das ändern, wenn mehr Frauen in den systemrelevanten Aufsichtsräten und
Vorständen der Konzerne sitzen? Ich möchte es glauben können.
Hans See
Hans See über das neue Buch von Berd Hontschik „HEILE UND HERRSCHE! – Eine gesundheitspolitische Tragödie“
Westend Verlag 2022
Bernd Hontschik, Chirurg, Buchautor und Kolumnist der Frankfurter Rundschau, ist einer der letzten Kritiker des Gesundheitswesens, die sich – noch oder wieder? – wagen, im Kontext ihrer Analysen an den genialen Karl Marx zu erinnern, der das bis heute intellektuell und politisch realistischste und somit auch wirksamste Instrumentarium systematischer Kapitalismuskritik geschaffen hat. Das Gesundheitswesen, das nach Hontschik längst zur Gesundheitswirtschaft verkommen ist, ist nun einmal ein zentraler Bestandteil des kapitalistischen Wirtschaftssystems.
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Doch Hontschik ist zu klug, in seinen kritischen Schriften die rituellen und zeremoniellen Versatzstücke der einstigen Klassenkampfrhetorik zu bemühen, ohne die man in den 1970er Jahren, die im Zeichen der sozialliberalen Reformpolitik standen, gar nicht zur Kenntnis genommen worden wäre. Er macht, was schon der junge Marx machte: Er beschreibt präzise und analysiert knallhart die herrschenden Verhältnisse. Marx wusste, „man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!“
Das ist die Methode Hontschik: In glasklarer Sprache, für den „Normalbürger“ leicht verständlich, schildert er, was in den vergangenen Jahrzehnten unter vielversprechenden Namen wie Privatisierung und Digitalisierung aus dem Gesundheitswesen gemacht worden ist: eine Gelddruckmaschine für Investoren, eine standardisierte und kapitaldominierte Gesundheitswirtschaft, die völlig aus dem Ruder läuft, weil deren Entwicklung fast nur noch von Shareholdern, Benchmarksystemen und Aktienkursen vorgegeben wird.
Maßgeblich beteiligt an dieser Entwicklung war und ist die Pharmaindustrie. Über diese schreibt Hontschik: „Es gibt kein Verbrechen, dessen sich die Pharmaindustrie noch nicht schuldig gemacht hat. Manipulation oder Unterdrückung von Studiendaten, gekaufte Wissenschaftler, Erpressung, Verleumdung und Menschenversuche mit katastrophalem Ausgang – alles ist längst bekannt.“(S.73) Die Liste ist viel länger. Er geht noch einmal – nahezu lexikalisch – die größten dieser Verbrechen durch. Er erinnert uns an Contergan, Glyphosat, Babypuder, usw. usw. Am Ende lässt er auch die Impfstoffproduzenten nicht aus, die auf die Politik einen juristisch noch nicht aufgearbeiteten, aber längst als zumindest illegitim durchschauten Einfluss nahmen.
Hontschik spricht von Korruption und Interessenkonflikten, von „lukrativen Geschäftverbindungen zwischen Virologen, Testherstellern und Impfstoffproduzenten“. Und wer erinnerte sich nicht an die illegalen Geschäfte mit den Masken, die Hontschik gar nicht erst erwähnt. Die Impflobbyisten, ich nannte sie von anfang an „Impferialisten“, kassierten unfassbare Summen an Staatsgeldern, befreiten sich vertraglich von jeglicher Haftung und verhängten Patentblockaden zu Lasten der Armen Länder des globalen Südens. Hontschik diagnostiziert, dass die Corona-Pandemie etwas sichtbar gemacht hat, was er als Weiterentwicklung der Gesundheitswirtschaft deutet: Die Gesundheitsherrschaft.
Was ist Gesundheitsherrschaft? Nach Hontschik entwickelt sich aus dem Missbrauch der Medizin die Gesundheitswirtschaft, die schon an sich die Grenzen des vertretbaren weit überschreitet, und aus dieser entsteht nahezu unbemerkt ein die kapitalistische Demokratie selbst gefährdendes Herrschaftsinstrument. Die Wurzel aller Übel im Gesundheitswesen erkennt Hontschik darin, dass „eine Gesellschaft ihren Reichtum nicht mehr für das Funktionieren ihrer Sozialsysteme verwendet, sondern die Sozialsysteme in Quellen neuen Reichtums für Kapitalgesellschaften verwandelt…“ (S116)
Diese Fehlentwicklung ist aber nichts als die logische Konsequenz der gesamten kapitalistischen Entwicklung, die nun einmal alles kapitalisiert, was kapitalisierbar ist, um die Renditen zu sichern und zu erhöhen. Was ist aber – neben dem Friedensversprechen der Rüstungswirtschaft – renditeträchtiger als das Gesundheitsversprechen, das die Medizin ja nicht nur dem Patienten, sondern auch dem gesunden Menschen, der gesund bleiben, sogar möglichst gesund sterben möchte, hauptsächlich in Form von Medikamenten nun einmal gibt. Für ihre Gesundheit und ihre Gesundung geben die Menschen, falls sie eines haben, ihr ganzes Vermögen aus.
Einen Abschnitt seines Buches nutzt der Autor, seine Philosophie zu erklären, seinen Standort in diesem System und sein Verhältnis zur Wissenschaft zu bestimmen. Hierbei rekurriert er auf den Arzt und Denker Thure von Uexküll (nicht zu verwechseln mit dem Stifter des Alternativen Nobelpreises Jacob von Uexküll), der für eine „integrierte Medizin“ steht und damit für ein Gesundheitswesen, in dem Medizin als „emphatische Humanwissenschaft“ verstanden wird. Mit dieser Darlegung seines eigenen Grundverständnisses der Medizin richtet Bernd Hontschik auch einen Appell an die Mediziner, die Gesellschaft, die Politik, die Wirtschaft und die Medien, leider – aber verständlicherweise – nicht an die Gewerkschaften, die die Gesundheitsreformer, zu denen auch ich gehörte, anfang der 1970er Jahre noch mit Stolz als ihre engsten Verbündeten betrachten durften.
Keine Forderung, kein Manifest: Nur ein ganz persönlicher Vorschlag.
Verfasser: Prof. Dr. Hans See, Gründer und Ehrenvorsitzender der Bürger- und Menschrechtsorganisation Business Crime Control e.V
Vorbemerkungen
Einen Krieg wie den zwischen dem Angreifer „Russische Föderation“ und Verteidiger Ukraine so zu beenden, dass am Ende nur Gewinner übrigbleiben, klingt illusionär, ist aber möglich. Dazu müssen die, die ständig ihren Friedenswillen beteuern, von ihren festgefahrenen Standpunkten abrücken, besonders wenn es sich um uneingestandene Geschäftsinteressen und globalstrategische Zielvorstellungen handelt, Abschied nehmen.
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Die immensen Verluste, die jeder Krieg, auch dieser verursacht, verbietet es eigentlich, den Begriff Gewinner des Friedens zu benutzen. Dazu gibt es schon zu viele Verlierer, und zu viele unschuldige Opfer. Die größten Schäden, die Verluste der Menschenleben, sind nie wieder gutzumachen. Ich weiß, wovon ich rede. Mein Vater, ein Kriegsgegner und Antifaschist, musste dennoch Soldat werden und kam nicht wieder zurück. Vermisst für alle Zeiten. Und wer von den Politikern interessierte sich nach 1945 für die Vermissten? Bis heute vermisse ich eine angemessene Form, ihrer zu gedenken.
Die Frage der Wiedergutmachung und der gerechten Strafen für nachgewiesene Verbrechen, die die Geschädigten, die Opfer, nach Ende jedes Krieges, ja schon bei den Vorverhandlungen fordern, oft
sogar zur Bedingung für einen Waffenstillstand oder gar Friedensverhandlungen machen, kann nicht ausgeblendet werden. Dies sollte aber nicht dazu führen, dass der Vorschlag von vornherein
verworfen wird. Es sind dies Fragen, die am Ende der Verhandlungen stehen müssen, auch wenn es den verständlichen Wunsch, ja die Forderung geben wird, sie zuerst zu klären.
Der konkrete Vorschlag
Es geht zuerst um Waffenstillstandsverhandlungen. Sie könnten beginnen, wenn die Ukraine, unterstützt von jenen Staaten, die bisher ihren Verteidigungskrieg mit Milliardensummen, leichten, schweren und schwersten Waffen überhaupt ermöglichten, zum Ausgangspunkt einer Waffenstillstandsverhandlung das Angebot an Putin richtet, die Ukraine zu einem völkerrechtlich neutralen Staat zu machen. Das heißt, weder der NATO noch der Europäischen Union beizutreten und keine ausländischen Militärbasen auf ihrem Boden zu dulden. Damit müssten die Sicherheitsinteressen Russlands, die ja von Anfang an im Zentrum des Konflikts zwischen Rußland und der Ukraine standen, optimal befriedigt werden können.
Die Ukraine muss daher glaubhaft den Willen zeigen und vermitteln, dass sie auf die West-Integration verzichtet, sich bewusst als neutralen Pufferstaat zwischen den NATO-Staaten und der Russischen Föderation etabliert und mit allen Nachbarstaaten friedlich wirtschaftlich und kulturell kooperieren wird. Sie fordert das volle Recht auf eigene Verteidigung, so wie es die Schweiz hat, und akzeptiert ein international kontrolliertes Wiederaufbauprogramm, an dem sich alle Staaten, auch die Russische Föderation, beteiligen können. Ziel muss es sein, dass die direkt und indirekt an diesem Krieg Beteiligten durch Wiederaufbauhilfen zur inner- und zwischengesellschaftlichen Befriedung ihren Beitrag leisten.
Die Russische Föderation muss nach diesem Angebot und einem ausgehandelten Waffenstillstand ihre Truppen hinter die Grenzen zurückziehen, die sie am 24.Februar 2022 völkerrechtswidrig überschritten hat. Die Frage nach der Rückgabe der Krim wird – ähnlich wie die des Saarlandes – zehn Jahre nach der Neutralitätserklärung und – in diesem Fall – ihrer Bewährung durch eine international überwachte Volksabstimmung, geklärt. Das könnte auch für die Gebiete der Ost-Ukraine gelten, die Präsident Putin bisher ohne völkerrechtliche Anerkennung zum russischen Territorium erklärt hat.
Es ist hoffentlich klar, dass ein solcher Vorschlag keine Chance hat, wenn die Führung der Ukraine weiterhin glaubt und auch der Welt glauben zu machen versucht, sie könne Rußland besiegen, ohne es seinerseits zu erobern. Aber dies würde einen Dritten Weltkrieg auslösen, der auch ohne Atomwaffen die Zukunft der Gattung Mensch infrage stellt, weil kein Krieg dazu beiträgt, die Klimaziele zu erreichen und die noch größere Katastrophe zu verhindern.
Rezension:
Daniela Dahn
Im Krieg verlieren auch die Sieger – Nur der Frieden kann gewonnen werden.
Rowohlt Taschenbuch Verlag,
Hamburg 2022
Schon ein ganzes Jahr verteidigen nun die Ukrainer tapfer und unter unglaublicher Opferbereitschaft mit Todesmut nicht nur ihren von Putins Truppen überfallenen Staat, sondern – was uns Regierungen und Medien der USA und der meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der NATO unablässig ins Gedächtnis rufen – auch uns, den Westen, die Hüter der Bürger- Menschenrechte, der rechtsstaatlichen Demokratie, das Bollwerk der Freiheit.
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Was soll man zu einem solchen traurigen Jahrestag sagen? Viele werden die Toten und Verwundeten zählen, an die Vergewaltigten erinnern. Den Ukrainern danken und gratulieren. Ihre Opfer werden sicher nicht vergessen, solange dieser Krieg dauert. Danach werden vielleicht Gerichthöfe versuchen, Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. Aber ist nicht schon der Begriff Kriegsverbrechen falsch, ein Pleonasmus. Ist nicht jeder Krieg ein Verbrechen. Und wenn die Angreifer eindeutig die Schuldigen sind, machen sich im Krieg nicht auch die Verteidiger, auch wenn sie bestreiten würden, dass in ihrem Verteidigungskrieg das rechtsstaatlich verwerfliche Prinzip der Rache eine Rolle spielt, schuldig?
Da ich unter anderem so etwas wie ein Spezialist für gesellschaftspolitische Sachverhalte bin, die systematisch verharmlost, totgeschwiegen, als Verschwörungsideologien abgefertigt oder von Experten ins Reich des Irrationalismus verbannt werden, würde ich ein ganzes Buch schreiben müssen, um dieses Jahrestags zu gedenken. Über Putin als Verbrecher, der er schon war, als er noch von den westlichen Politikern, vor allem den bundesdeutschen, wie ein neuer Zar hofiert wurde. Ein Buch, in dem von den freiheitsliebenden Investoren der kapitalistischen Demokratien die Rede ist, die, als der Eiserne Vorhang endlich gefallen war, manche schon vorher, in dem am Boden liegenden, hilfesuchend zum Kapitalismus überlaufenden Rußland, eine Immobilie von kontinentaler Größe, ein Riesenrohstofflager (und nicht nur für Öl, Gas und Holz) sahen. Manche spekulierten sogar schon, dass es neues Aufmarschgebiet der NATO im künftigen Kampf gegen das noch immer kommunistisch kommandierte, aber schon erfolgreich kapitalistisch produzierende und weltpolitisch agierende China werden könne.
Ein Buch zu diesem Jahrestag müsste zugleich ein Buch über die Geschichte der Legionen, ja ganzer Völker sein, die immer wieder bereit waren, für die Freiheit anderer alles zu geben, sogar ihr Leben. Natürlich in dem Glauben, auch ihre eigene Freiheit zu gewinnen. Daher müsste ich viel über die Fremdenlegionen dieses Planeten schreiben, über Söldner, die für die Reichen und Mächtigen ihres eigenen Landes, aber auch, wie in der Ukraine heute, für die Reichen und Mächtigen der kapitalistischen Demokratien in den Krieg ziehen und dies auch weiterhin mit dem Mut der Verzweiflung tun, weil sie gar keine Alternative haben. Würden wir diesen Krieg nicht bezahlen, wäre er schon verloren. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass wir schon vorher viel investiert haben, um die Ukraine für den Westen, die EU und die NATO zu gewinnen.
Ein solches Buch zum Jahrestag würde natürlich auch von den Werten selbst handeln müssen, für die Menschen zu kämpfen und zu sterben bereit waren und noch immer sind, und dies, obgleich es zu keinem Zeitpunkt ihre eigenen Werte waren, von denen sie aber träumten, die sie sich oft selbst versprechen, sonst wären sie nicht bereit, ihr Leben dafür zu opfern. Nun, da ich selbst ein solches Buch nicht mehr zu diesem Jahrestag werde schreiben können, allenfalls zum zweiten, kann ich zu diesem eines empfehlen.
Es beleuchtet zwar von einer ganz anderen Seite diesen Krieg, aber meinem Grundüberzeugungen und Gedanken zu diesem Themenkomplex kommt es sehr nahe. Ich habe es mit großem Gewinn gelesen und kann es jedem empfehlen, der genug hat von der Propaganda der Kriegsparteien und ihrer Finanziers, auch von den Expertisen der handverlesenen „Friedensforscher“, bei denen man sich fragt, ob sie ihre Institute nicht besser als Konflikt- und Kriegsforschungseinrichtungen bezeichnen würden.
Daniela Dahn, die dieses Buch jetzt herausgegeben hat, ist eine seriöse, glaubwürdige Vertreterin der deutschen Friedensbewegung. Sie unterscheidet sich von vielen immer wieder in den Talkshows um ihre Meinung befragten dadurch, dass sie sich dem tagespolitischen Kriegsgeschrei bewusst entzieht, gründliche Hintergrundrecherche betreibt und mit großer sprachlicher Klarheit Probleme beschreibt, die von den handverlesenen Analytikern und Prognostikern vergessen oder als unwichtig denunziert werden. Daniela Dahn nimmt die unantastbare Würde des Menschen, die in Kriegen nichts mehr gilt, weiterhin ernst, damit auch das Recht auf Leben, auf körperliche und geistige Unversehrtheit. Sie fragt nicht, wie der Krieg, sondern wie der Frieden gewonnen werden kann.
Denn, so ihre These, im Krieg verlieren auch die Sieger. Natürlich weiß sie, was diesem Axiom entgegensteht, ihm scheinbar widerspricht, dass es in jedem Krieg auch Kriegsgewinnler gibt. Warum sollten sie für Frieden sein, wenn sie in ihren Villen, auf ihren Yachten den Laptop anschalten und sehen, wie ihre Aktien steigen? Denn der Krieg ist ein gigantisches Geschäft. Natürlich sind Dahns Essays keine wissenschaftlichen Studien, aber sie basieren auf kritischen Erkenntnissen und sind hervorragende Entwürfe für Friedensforschunfsprogramme. Allein ihr Essay über das „Modell Maidan – illegal aber legitim“, in dem sie über die Grundlagen politischer Macht nachdenkt, bietet mehr als alles, was in diesem Kriegsjahr in den Mainstream-Medien an aufklärenden Informationen geboten wurde.
Ich referiere ihre Beiträge hier nicht. Zu schnell glaubt man, sich über eine Rezension genug informiert zu fühlen und sich die Lektüre ersparen zu können. Man sollte sich aber über dieses Buch nichts erzählen lassen, man sollte es selber lesen. Dann kann man in den vielen Diskussionen, die meist nur auf der Grundlage von Tagesnachrichten, Kommentaren und Talkrunden geführt werden, wirklich mitreden. Sie liefert ihren Leserinnen und Lesern fundierte Gegenargumente, die sie aus verschiedenen Anlässen zwischen 2020 und 2022 schrieb und nun in Form eines Sammelbandes mit Essays publizierte. Man kann ihr dazu nur gratulieren. Es wird die Zahl derer erhöhen, die ihren Kopf dazu benutzen, Frieden zu schaffen – ohne Waffen.
Über die Gründe des Rücktritts der Verteidigungsministerin Lamprecht kann man sicher noch lange streiten. Aber macht das Sinn? Ich denke, es würde eher ablenken von dem Problem der Nachfolge. Der Sozialdemokrat Boris Pistorius ist ein erfahrener und weithin geschätzter Innenminister. Dass ausgerechnet auf ihn die Wahl der Nachfolge fiel, mag viele Gründe haben, die ja auch schon als Vorschußlorberen benutzt werden. Doch es ist merkwürdig, dass ein ganz zentrales Problem – bisher jedenfalls – unerwähnt geblieben ist.
Es ist ein altes und doch immer aktuelles Thema, dass durch die so genannte Globalisierung der Wirtschaft, durch die immer größeren Staatenbündnisse (und umfangreicheren Vertragssysteme) die Souveränität der Nationalstaaten automatisch eingeschränkt wird und fast undiskutiert eine Art Weltinnenpolitik, zumindest jedoch eine kontinentale Innenpolitik entsteht, die das traditionelle Denken, das Innen- und Außenpolitik streng auseinanderhält, untergräbt. Das hat militärpolitische Konsequenzen.
Man denke nur an die Unmöglichkeit eines erfolgreichen nationalen Kampfes gegen das internationale Wirtschaftsverbrechen, gegen kriminelle Oligarchen, CumEx- und Wirecard-Gangster. Aber vor allem an die durch Widerstand und systematische Missachtung von Wirtschafts- und Umweltstrafgesetzen an allen guten politischen Absichten vorbei ständig größer werdenden Umweltverbrechen mit den ständig wachsenden Gefahren von Umweltkatastrophen.
Da braucht es keine Kriege mehr, um Bilder wie die aus der durch Bombenterror zerstörten Städte und Landschaften der Ukraine zeigen zu können. Die Bilder von Ahrweiler unterscheiden sich davon kaum. Und es sind Bilder aus dem eigenen Land, die jeden Tag an anderen Orten so oder ähnlich neu entstehen können. Da wir solche Erfahrungen nicht erst neuerdings machen, sondern schon bei der Hamburger Flutkatastrophe erlebten, als der Innensenator Helmut Schmidt gegen geltende Gesetze, aber durchaus legitim, die Bundeswehr zum Einsatz brachte, um akute Katastrophenhilfe zu leisten, Menschenleben zu retten, ist es nicht überraschend, dass bei erkennbar wachsenden Gefahren dieser Art (Terrorismus, internationale Wirtschaftsverbrechen, menschengemachte Naturkatastrophen) die Diskussion um den Einsatz der Bundeswehr im Innern ständiges Thema der Sicherheitspolitiker, aber auch der Deutschen Polizeigewerkschaft ist.
Ich will hier nicht voreilig den „Bluthund“ Noske heraufbeschwören, aber erinnern sollten wir uns, dass es in Deutschland, noch bevor Bismarck mittels preußischer Kriegspolitik den nationalistischen Staat gründete, der zumindest maßgeblich den ersten Weltkrieg, zweifelsfrei den Zweiten Weltkrieg vom Zaun brach, zu einer militaristischen Politik kam, die am Ende in den totalen Staat einmündete, in dem der Militarismus das Kulturleben maßgeblich beeinflusste. Reaktionäre und konservative Standardmeinung war es schon 1848, dass gegen Demokraten nur Soldaten helfen. Dass ausgerechnet der Sozialdemokrat Noske die Versuche der Rätebewegung, statt der bürgerlichen Revolution eine sozialistische durchzusetzen, mit Hilfe der Reichswehr im Keim erstickte, schien in der Logik der Geschichte des deutschen Militärs zu liegen.
Es war die Sozialdemokratie, die nach der Logik der Geschichte und ihres damals noch marxistischen Selbstverständnisses eine sozialistische Revolution hätte machen müssen. Stattdessen machte sie die bürgerliche, die dem Bürgertum, das 1848 einen deutschen Nationalstaat gründen wollte, nicht gelungen war. Das erledigt der Krautjunker Bismarck durch angezettelte Kriege. Dass die SPD noch als revolutionäre Partei galt, führte zu dem Irrtum der Feinde der sozialistischen Revolution, das sei eine sozialistische gewesen. Auch wenn Noske diese mit militärischen Kräften verhinderte, haben das die bürgerlichen Kreise nicht gelten lassen. Sie haben seit dem späten 19. Jahrhundert die immer stärker werdende Arbeiterbewegung bekämpft, und deshalb auch die faktisch von der SPD gegründete bürgerliche Weimarer Republik als sozialistischen Staat bekämpft und zerstört.
Niemand diskutiert heute ernsthaft, ob es nicht diese Entscheidung war, die den deutschen Faschisten den Weg dazu bereitete, ihr militaristisches Mordsystem als Staatsordnung zu etablieren. Es war der gegen den angeblich von Juden beherrschten (finanz)-kapitalistischen Internationalismus gerichtete Nationalismus, der auf der historischen Grundlage des christlichen Antijudaismus und des ihn ablösenden biologistischen Antisemitismus den Antisozialismus und Antikommunismus zur Ersatzreligion machte. Unter den von Faschisten demagogisch missbrauchten Begriffen „Nationalsozialismus“ und „Arbeiterpartei“ wurde dann die NSDAP in vermeintlich „freien“, allerdings unter terroristischem Druck von rechts stehenden, Wahlen stärkste Partei. Und die weniger radikalen bürgerlichen Parteien sowie die Wirtschaftsbosse, die Medienmogule, die Kirchen, viele Wissenschaftler und Studierende, zogen es vor, mit Hitler gegen die Gefahr von Links, gegen SPD und KPD, zu koalieren, statt die Gefahr von Rechts durch Koalitionen mit der Linken zu verhindern.
Wer die derzeitigen Tendenzen in Deutschland kritisch beobachtet, wird zugeben müssen, dass auch die gegenwärtige Demokratie durch ähnliche Entwicklungstendenzen, die diesmal in ganz Europa, ja weltweit zu beobachten sind, in wachsendem Ausmaß gefährdet wird.
Es ist auch jetzt wieder, anlässlich der zweifellos völkerrechtswidrigen Überfalls der Russischen Föderation auf die Ukraine, und der Unterstützung der Ukraine mit immer schwereren Waffen, eine Diskussion in Gang gekommen, die nahezu unbemerkt dem überwunden geglaubten Militarismus Deutschland neuen Auftrieb ermöglicht. Ein Ende der Gewaltspirale ist nicht erkennbar. Die Grundbedingung der Russen, die schon einmal im geteilten Deutschland zurückgewiesen wurde, weil die Teilung vom Westen gewollt war, nämlich die Ukraine als neutrale Sicherheitszone zwischen NATO und EU anzuerkennen, wird weder von der ukrainischen Regierung noch von den westlichen Unterstützern auch nur andiskutiert. Insofern muss man genau hinsehen und besser zu verstehen versuchen, was es bedeuten kann, dass ein erfahrener Innenminister als der Reformator der Bundeswehr auserkoren wurde.
Es gibt viele andere Signale, die auf eine Militarisierung der Gesellschaft. Auf das Ende des Bürgers in Uniform, hindeuten. Ich erinnere an den Einsatz der uniformierten Bundeswehrsoldaten während der Corona-Pandemie, der sogar von einem General kommandiert wurde. Und sehen wir uns die Einsätze des Militärs bei der derzeitigen Erdbebenkatastrophe in der Türkei und in Syrien an, die zwar richtig und legitim sind, aber die Militärs immer intensiver in die Strukturen der diktatorischen Verhältnisse dort integrieren. Das soll nicht heißen, dass es so kommen muss, wie es kommen könnte, dass es aber wichtig ist, frühzeitig die Entwicklungen zu erkennen und ihnen mit allen demokratischen Mitteln entgegenzuwirken.
Auch Polizeibedenken belegen, dass hier ein Problem versteckt liegt. Daher zur allgemeinen Information ein Beitrag, der sich auf der aktuellen Seite der Deutschen Polizei Gewerkschaft (DpolG) findet. Wenn man ihn genau liest und mit der sogar von Experten als „überraschend“ qualifizierten Entscheidung des Hamburgers (und Helmut Schmidt-Nachfolgers) Kanzler Olaf Scholz in Verbindung bringt, einen qualifizierten Innenminister wie Boris Pistorius zum Verteidigungsminister zu ernennen, muss man zugeben, dass die damit verbundenen Möglichkeiten zwar weit über die derzeit noch starken Bedenken und verfassungsrechtlichen Beschränkungen hinausgehen, aber diese Entscheidung angesichts der zu erwartenden Zunahme von Ausnahmezuständen von geradezu visionärer Voraussicht zeugt.
Hans See (den 7.2.2023, erweitert am 13.2.2023)
Neulich mal wieder „Markus Lanz“ geguckt! Wie bei allen andern Talksshows: wenig Neues. Seit langen nur zwei Themen: Corona-Impferialismus und Putins Angriffskrieg. Masken, Impfstoff, schwere Waffen. Die Mehrheit derer, die mit Lanz die feste Überzeugung liefern, der freiheitlich- kapitalistische Westen sei gegenüber dem Kriegsverbrecher Putin absolut im Recht, ist durch sorgfältige Selektion der „Gäste“ ebenso absolut gesichert. Einwände des aus dramaturgischen und ideologischen Gründen meist dazu eingeladenen Abweichlers (oder der Abweichlerin) werden großzügig als Irrtümer gewertet, das heißt im Klartext: Leute mit anderer Meinung werden zur Schnecke gemacht.
Irgendwann hatte ich mal eine Sendung eingeschaltet, ich weiß gar nicht mehr, ob es eine mit Lanz,
Illner oder Maischberger war, ist ja auch egal, zu der jedenfalls ausschließlich das breite Spektrum
der bundesdeutschen Linken eingeladen worden war? In dieser erninnerte ein Marxist oder eine
Marxistin daran, dass es neben den beiden ewig wiederholten Forderungen „noch mehr Waffen“ und
„noch mehr Diplomatie“ auch noch eine wirkliche, das heißt garantiert wirksame und nachhaltige
Alternative gibt. Neben den derzeit diskutierten Möglichkeiten der Beendigung eines Krieges gibt es
eine dritte, eine historisch erprobte. Wie wäre es denn, sagte eine Stimme der Linkspartei – war es
Janine Wissler? – wie wäre es denn, wenn die russischen Soldaten ihre Waffen nicht länger gegen die
Ukrainer, und die ukrainischen Soldaten ihre Waffen nicht mehr auf die Russen richteten, sondern
die Armeen beider Seiten ihre Waffen den eigenen kriegsführenden Regierungen und Oligarchen auf
die Brust und sie absetzten?
Dann könnten sie sofort in Friedensverhandlungen eintreten, sich zusammensetzen und überlegen,
wie man diese kapitalistische Oligarchenmafia, und möglichst nicht nur in der Ukraine und in der
Russischen Föderation, sondern auch in den anderen von Konzerninteressen beherrschten und
gelenkten Staaten ein für allemal entmachtet. Dazu müssten diese einfachen Leute natürlich
ermutigt, organisiert, aufgeklärt werden. Wahrscheinlich würden nicht nur die russische und
ukrainische Bevölkerung bei einer solchen friedenstiftenden Revolution begeistert mitmachen.
Wahrscheinlich auch viele andere weltweit.
Aber dann wachte ich auf. Bitter enttäuscht! Schon wieder vor der Glotze eingeschlafen. Ich hatte –
so hätte Markus Lanz es seinem kriegsmüden Publikum erklärt – „nur schlecht geträumt“. Wäre ich
sein Gast gewesen, hätte ich Lanz entgegengehalten, dass es den meisten Menschen auf diesem
Globus sofort einleuchten würde, wenn er ihnen mit entsprechend qualifizierten Gästen erklären
würde, dass Massenaufstände und politische Revolutionen gegen kapitalistische Oligarchen und ihre
Handlanger, die einzigen nachhaltigen Alternativen zu den Kriegen sind, die im Namen westlicher
Werte geführt werden.
Selbstverständlich würde Lanz sofort den erfahrenen Weltmann Robin Alexander auf mich loslassen,
der mir – und dem erstaunten Publikum – erklären würde, dass Lenin doch gar keine Revolution, also
auch keinen Waffenstillstand durch Revolution hätte bewerkstelligen können, wenn der Kaiser, seine
Regierung und die kaiserliche deutsche Heeresleitung (Hindenburg und Ludendorf) den Lenin nicht
1917 heimlich aus dem Schweizer Exil durch Deutschland nach Petrograd geschleust hätten. Und
Lenins Frieden hätte schließlich Stalins Diktatur ermöglicht. Ach ja, Stalin. Aber warum haben die USA zuerst mal diesen Diktator, und nicht gleich Hitler unterstützt?
Das wären Themen für aufklärerische freiheitlich-demokratische Talkshows. Doch wer weiß das
nicht: Die Freiheit des öffentlich-rechtlichen Fernsehens endet in kapitalistischen Demokratien, wo
die Freiheit der Konzerne und ihrer Hauptaktionäre beginnt. Deshalb wird ja auch nicht darüber geredet, dass dieser Krieg der Krieg zweier kapitalistischer Staaten ist, der zwischen dem
imperialistischen Aggressor Rußland und dem vom imperialistischen freien Westen ermutigten
Provokateur Ukraine geführt wird. Kräftig ermutigt und unterstützt von der NATO, den USA und der
Europäischen Union, weil es eben, wie allenthalben zugegeben wird, ein Stellvertreterkrieg ist, den
die Ukrainer für unsere westlichen Werte, gemeint ist unsere kapitalistische wohlfahrts- und
Ausbeutungsdemokratie, führen.
Wir sind offensichtlich so stark und so reich geworden, dass wir es nicht mehr nötig haben, unsere
Werte selbst zu verteidigen. Aber kann das gutgehen? Eine ganze Bevölkerung in ein Söldnerheer zu
verwandeln und für unseren auf massiver Ausbeutung der rohstoffreichen Billiglohnländer der Welt
beruhenden Wohlfahrtskapitalismus in einem Krieg zu schicken, der am Ende – und auch nur
vielleicht – zu gewinnen wäre, wenn sich die NATO bzw. die USA mit ihren Atomwaffenarsenalen in
die Kämpfe einmischen? Und wäre das nicht der Dritte Weltkrieg, den eigentlich keiner gewinnen
kann, den die Menschheit verlieren würde?
Anmerkung:
Die beiden kursiv gedruckten Sätze am Ende des fünften Abschnitts hat die Redaktion der Zeitschrift
Ossietzky aus redaktionellen Gründen weggelassen.
Abgedruckt im Sonderheft „Krisen und Kampfzonen“ der Zeitschrift „Ossietzky“ (27.8.2022)
Liebe Besucher und Besucherinnen, ich begrüße Sie/Euch und wünsche – trotz aller beunruhigenden Entwicklungen - ein gutes, gesundes unnd friedliches Neues Jahr.
Zum Jahreswechsel 2022/23 wurde die Startseite umgestaltet, sodass sie es mir ermöglicht,
zeitnah zu aktuellen Ereignissen, Nachrichten, Fragen und Problemen sofort Kurzanalysen,
Kommentare, Buchrezensionen etc, zu publizieren, die mit dem großen Themenkomplex
Wirtschaftsverbrechen zu tun haben. Diese Beiträge finden Sie hier in der Rubrik "Aktuelles".
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Die meisten unserer lokalen, nationalen und globalen Probleme haben entweder unmittelbar oder
mittelbar mit Wirtschaftsverbrechen zu tun. Sie sind meist Ursache, können aber auch Folge von Not
und Elend, Krisen und Kriegen, Flucht und Vertreibung, Fremdenfeindlichkeit und Terrorismus sein.
Wer sich nicht täglich mit Wirtschaft und Wirtschaftspolitik befassen kann, kann die Zusammenhänge
zwischen den verschiedenen Problemkomplexen nur sehr schwer oder überhaupt nicht erkennen.
Aber nur über die Aufklärung von Zusammenhängen werden die großen Weltprobleme wenigstens
insoweit begreiflich, dass man sich eine eigene Meinung zu bilden vermag.
Dass es immer mehr Menschen gibt, die an den vielen, meist undurchschaubaren Ereignissen
verzweifeln und am Ende sogar sogenannten Verschwörungsideologen auf den Leim gehen, die ihnen
die angeblich heile Welt des nationalen Egoismus und eines sogar wieder tötungsbereiten Rassismus
neu herzustellen versprechen, ist doch bekannt.
Mit diesem Portal, das auch die Möglichkeit bietet, mir Kritiken zu meinen Texten oder auch
Korrekturvorschläge zuzuschicken, liefere ich Informationen und Argumente, mit denen man den
nationalistischen, rassistischen und imperialistischen Ideologien überzeugend entgegentreten kann.
Nicht nur die noch relativ kleine Gruppe der „Reichsbürger“, auch viele Bürgerinnen und Bürger, die
wir und die sich selbst als brave und fromme Konservative verstehen, die aber schon den sozialkapitalistischen Liberalismus
und den kapitalfrommen Sozialdemokratismus für Kommunismus halten und entsprechend bekämpfen,
wollen offenkundig hinter die sozialen und politischen Errungenschaften der kapitalistischen
Demokratien zurück, statt entschlossen für deren wirtschaftsdemokratische Weiterentwicklung, also
auch für die Eindämmung des Missbrauchs privater Wirtschaftsmacht, zu kämpfen.
Damit die Basis für diese Diskussionen möglichst breit wird, ohne mich eines der derzeit heftig
umkämpften, so genannten „sozialen“ Medien bedienen zu müssen, werde ich ab sofort bei neuen aktuellen Beiträgen einen Newsletter verschicken, den man mit einem Klick hier kostenlos bestellen und beziehen, aber auch jederzeit wieder abbestellen kann. Da das Problem, mit dem ich mich seit einem halben Jahrhundert wissenschaftlich und politisch befasse und in dieser Website dargestellt wird, ständig wächst, betrachte ich es als meine Pflicht, mich noch einmal - mit nun neuen technischen Möglichkeiten – in den öffentlichen Diskurs einzumischen.
In diesem Sinne freue mich auf einen intensiven Austausch praxisrelevanter Gedanken.
Hans See
PS: Zum Start der neuen Rubrik finden Sie hier eine erste Kostprobe, eine Gute-Nacht-Geschichte, die ich im August 2022 in einem Sonderheft der Zeitschrift „Ossietzky“ veröffentlichte und die angesichts der Prognosen, dass der Krieg in der Ukraine sich noch sehr lange hinziehen kann, eine Alternative zu den diskutierten Waffenlieferungen mit der Hoffnung auf einem „Siegfrieden“ auf der einen und einem
doch äußerst zweifelhaften Verhandlungsfrieden auf der anderen Seite zur Diskussion stellt.