Hinweis:
Es lohnt sich, die hier wiedergegebene Rezension heute, vor dem Hintergrund des Niedergangs der „linken Volkspartei“ SPD und der „rechten Volkspartei“ CDU und deren Verdrängung durch die rechtsextreme AfD zu lesen. Vielleicht sogar mein von Alemann (den ich sehr schätze) besprochenes Buch selbst. Denn im Gegensatz zu der vom Rezensenten betonten Aktualität des Jahres 1972 erweist sich das behandelte Thema bis heute als aktuell.
Es ist die systembedingte Begrenzung nicht nur der Parteiendemokratie schlechthin, auch die der innerparteilichen Demokratie der kapitalismuskritischen Parteien, die die Volksparteien zerreißt. Ihr Zusammenhalt verdankten diese Parteien dem Antikommunismus, der aber mit dem Ende der „kommunistischen Gefahr aus dem Osten“ immer schlechter funktioniert. Die kapitalistischen Demokratien haben bisher noch keine Antwort darauf gefunden, auch die vielen neuen äußeren und inneren Feinde der freiheitlichen Demokratie (Hans See)
Innerparteiliche Demokratie: Volksparteien im Dilemma
Von Ulrich von Alemann
6. Oktober 1972
Volksparteien im Dilemma
Sind Fraktionsbildungen illegitim?
Von Ulrich von Alemann
Aktualität ist der analysierenden Gesellschaftswissenschaft leider nicht eben geläufig. rororo-aktuell zeigt, daß es schneller gehen kann, ohne daß eine geschluderte Broschüre daraus wird, zeigte schon mehrmals, daß Literatur speziell über die vernachlässigte, wohl immer noch anrüchige "Parteipolitik" vom Leser verlangt wird und lesbar sein kann – nicht zu schwer wie wissenschaftliche Parteienforschung, nicht zu flach wie manch wohlfeilen Pamphlete der Parteien selbst.
Etwas aus diesem Rahmen fälltHans See: "Volkspartei im Klassenstaat oder Das Dilemma der innerparteilichen Demokratie", mit einem Nachwort von Wolfgang Abendroth; Rowohlt, Reinbek 1972; 186 S., 4,80 DM
Das Buch beruht auf einer deutschen Doktorarbeit, wohlversehen mit Anmerkungs- und Literaturapparat. Was heißt das? Sicher wird hier nicht so flüssig formuliert wie in Norbert Blüms Skizze der CDU (siehe nebenstehende Rezension). Trotzdem bleibt Aktualität, und das ist bei einem Thema, das beileibe keine "Doktorfrage" bleiben sollte, anerkennenswert. Das Dilemma innerparteilicher Demokratie ist gerade bei der Vorbereitung der bevorstehenden Bundestagsneuwahl offenkundig geworden, beispielsweise beim Verhalten der SPD-Führung gegenüber der Initiative der Jungsozialisten, die Kandidatenaufstellung politisch zu führen, oder bei den freigebigen Kandidaturverteilungen und Listenplatzgarantien der drei Parteiführungen in Nordrhein-Westfalen – gehe es nun um Schiller, Augstein oder Hupka.
Es ist dem Autor gelungen, noch politische Ereignisse der jüngsten Zeit in seine Darstellung einzubeziehen. So versucht er im einleitenden Kapitel, die Diskussion um freies oder imperatives Mandat, um repräsentativen oder plebiszitären Demokratiebegriff am Fall des Mißtrauensvotums gegen Brandt zu belegen. Im Gegensatz zur überwiegenden Meinung, auch "herrschende Lehre" genannt, glaubt See, daß Artikel 20 des Grundgesetzes ("Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus...") in engem Zusammenhang mit Artikel 21 ("Die politischen Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit... Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen ...") stark plebiszitäre Züge enthält; besonders die Forderung nach innerparteilicher Demokratie verrate eine Tendenz zum imperativen Mandat.
Volksparteien im Dilemma
Fußend auf einem so verstandenen Demokratiebegriff untersucht der Autor die formale Struktur der Parteien, wie sie sich in Parteiengesetz und Statuten niederschlägt. Sicher bietet ein Statut kein Abbild der tatsächlichen Struktur und Machtverhältnisse einer Partei, ebenso wie auch eine Verfassung nur formale Grundregeln bereitstellen kann. Aber so wie Verfassungsfragen Machtfragen sind, haben auch Parteiengesetze und Statuten mit Macht zu tun. Nicht nur in dem Sinne, daß, wer die Macht, auch die Verfassung hat, sondern auch so: Wer die Verfassung hat, hat Macht, anders.ausgedrückt: wem es gelingt, in eine Verfassung oder ein Statut Grundrechte oder Rechtsschutz der Mitglieder hineinzuschreiben, kann davon auch Gebrauch machen. Dies ist mit dem Parteiengesetz von 1967 und den daraufhin geänderten Satzungen trotz aller Einschränkungen mehr gelungen, als es See zugibt.
Von außen gesteuert?
Bei der Analyse der innerparteilichen Wirklichkeit schöpft See zwar nur aus der vorliegenden Parteienliteratur, und das nicht einmal voll und ganz. Aber er hat doch wichtige neue Gedanken beigesteuert, die bisher zu wenig beachtet wurden. Um zwei herauszugreifen:
- Der Zirkel der zwanghaften Sozialisation veranlaßt die bereits politisch motivierten Bürger, also Selbständige, Beamte, höhere Angestellte, sich als Parteimitglieder überproportional stark politisch zu engagieren, während es den unmotivierten, den weniger aufstiegsorientierten Bürgern, das heißt den einfachen Arbeitern und Angestellten, schwergemacht wird, aus ihrem Lebenskreis auszubrechen.
- Der Abgeordnete steckt im Spannungsfeld – zwischen Parteiloyalität einerseits (die gegenüber dem Parteivorstand, der Fraktion und der Wahlkreisorganisation differenziert werden muß) und der Loyalität gegenüber den Wählern anderseits (auch hier muß getrennt werden zwischen Wählern des Parlaments, der Partei, des Wahlkreises und des Kandidaten, also den Delegierten der Wahlkreisversammlung).
Aber diese Dinge hält See selbst für sekundär angesichts seiner Hauptthese, die er aus einer Analyse der politisch-ökonomischen Nachkriegsentwicklung der Bundesrepublik und ihrer Parteien entwickelt. Sie lautet: Innerparteiliche Demokratie läßt sich unter den Bedingungen des Kapitalismus nicht verwirklichen. Indem er die "Außensteuerung" der Parteien kritisch darstellt, gelingt es ihm sicher mehr als anderen Parteiforschern, die Abhängigkeiten der Politik und speziell der politischen Parteien von ökonomischen Interessen nachzuweisen. Aber so rigoros formuliert kann seine These nicht überzeugen, besonders, da er sie selbst im letzten, lesenswertesten Teil seiner Arbeit über das Monopol (besser wohl Duopol) der beiden "Volksparteien" modifiziert.
Chance für Parteirebellen
Innerparteiliche Demokratie kann als innerparteiliche Opposition besonders bei der "linken Volkspartei" eine Chance haben. Voraussetzung ist, daß die traditionelle Parteidisziplin, die für eine kämpferische Arbeiterpartei unabdinglich war, für eine Volkspartei aber anachronistisch geworden ist, zugunsten einer lockeren Formation – wie bei den übrigen Parteien auch – aufgegeben wird, so daß Fraktionsbildungen nichts Illegitimes mehr anhaftet.
Volksparteien im Dilemma
Die wissenschaftstheoretische Position, von der aus der Autor argumentiert, wird klar ausgewiesen: als kritisch-marxistisch. See will "bewußt praxisbezogene, der politischen Praxis dienende und sie verändernde Wissenschaft" betreiben. Seine zentrale Hypothese, daß der Verfassungsauftrag des Grundgesetzes zur innerparteilichen Demokratie "auf Grund der antagonistischen Widersprüche unserer überwiegend von privaten Wirtschaftsinteressen beherrschten Gesellschaft nicht verwirklicht werden kann", klingt resignierend, und er versäumt es, seine eigene These des Schlußkapitels von der begrenzten, aber realen Chance innerparteilicher Opposition mehr als nur kurz resümierend der Unvereinbarkeitshypothese gegenüberzustellen.
Sees Bändchen bietet trotzdem eine wichtige, stimulierende und provozierende Ergänzung der vorliegenden Parteienliteratur. Wenn auch seine Materialbasis manchmal zu schmal angelegt ist und daher zu anspruchsvoll versucht wird, Ideologien zu "entlarven", zu einfach verschränkte Beziehungen als "dialektisch" ausgegeben werden, oder von Antagonismen die Rede ist, wo die Dinge nicht schwarz-weiß, spendern viel komplizierter liegen, wie eben in der "linken Volkspartei" – zusammengenommen muß man doch Wolfgang Abendroths Nachwort zustimmen, daß See für die "Demokratisierung" die Zusammenhänge im sozialökonomischen, politischen und parteipolitischen Bereich überzeugend aufgezeigt hat.
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