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Dreissig Jahre Business Crime Control e.V

 

 

Hans See

 

 

 

Am 22. März 1991 wurde in der damaligen „Atom-Stadt“ Hanau die Aufklärungsorganisation Business Crime Control gegründet. Später nannte sich Hanau die Brüder-Grimm-Stadt. Das aber konnte die rassistische Bluttat des 19. Februar 2020 nicht verhindern.

 

Dass ich an die 30 Jahre zurückliegende BCC-Gründung erinnere, möchte ich nicht als nostalgischen Anfall missdeutet wissen. Es ist ein auch zu allen anderen Jahrestagen von mir immer wieder erneuerter öffentlicher Appell an alle, die eben nicht nur mit Appellen, sondern auch praktisch, oft unter großen persönlichen Risiken, gegen menschen- und naturfeindliche Ausbeutung, gegen soziales Unrecht, Unterdrückung, Kriege und Zerstörung der Lebensgrundlagen der Gattung Mensch kämpfen.

 

Der Appell sagt: Bitte nicht vergessen, dass an der Wirtschaftskriminalität, die längst fester Bestandteil der legalen Wirtschaftsordnungen ist, alle Bemühungen um eine bessere, gerechtere Welt, um mehr Demokratie und eine nachhaltige soziale Ökologiepolitik, um Frieden und Abrüstung, um ein Recht auf Nahrung und sauberes Wasser daran scheitern, dass die Reichen und die Superreichen, die die demokratiefreie Herrschaft über Weltkonzerne ausüben, jede Demokratie, jedes Bestreben nach mehr persönlicher Freiheit und größerer gesellschaftlicher Gerechtigkeit, zum Scheitern verurteilen können.

 

Als BCC nach 5jährigem Bestehen erstmals große Bilanz zog (das war nach Adam Riese 1996), organisierte ich eine bundesweite Konferenz, die an der FH-Frankfurt stattfand. Die Referate der Konferenz wurden 1997 von mir und meinem inzwischen leider verstorbenen Freund, dem Journalisten Eckart Spoo, in einem Sammelband mit dem Titel „Wirtschaftskriminalität – kriminelle Wirtschaft“ herausgegeben. Anlässlich des 30jährigen Bestehens habe ich die „Einleitung“ noch einmal gründlich gelesen, um zu überprüfen, ob sie Bestand hat. Sie hat. Sie kommt mir heute aktueller und brisanter vor als zu der Zeit, als ich den Entwurf verfasst und Eckart Spoo die Endfassung vorgenommen hatte.

 

Die gekürzte Fassung der Einleitung wurde unter dem Titel „Wirtschaftsverbrechen in der Nummer 6/2021 der von Eckart Spoo gegründeten Zeitschrift „Ossietzky“ abgedruckt. Ich danke Rüdiger Dammann, dem Verantwortlichen Redakteur, dass er diesen Abdruck zum BCC-Gründungsgedenken ermöglicht hat. Ich wollte ihn allerdings auch als Geburtstagsgeschenk an den Schauspieler Rolf Becker verstanden wissen, dem Spoo und ich das Buch in Freundschaft gewidmet haben. Die ungekürzte Einleitung kann hier nachgelesen werden. HS.

 

 

 

 

 

„Einleitung“ zu dem Buch: Hans See/Eckart Spoo – Wirtschaftskriminalität – kriminelle Wirtschaft (Distel Verlag, Heilbronn 1997)

 


 

   Der damalige Chef der Deutschen Bank, Hilmar Kopper, schuf das Wort des Jahres, als er die knapp eine halbe Milliarde Mark, die das renommierte Geldinstitut im Betrugsfall des Baulöwen Jürgen Schneider eingebüßt hatte, als „Peanuts“ bezeichnete. Für ihn war der Fall des Immobilien-Spekulanten, der bei seinem Konkurs eine Betrugsmasse von rund fünf Milliarden hinterlassen hatte, offenbar nichts Besonderes.

 

Tatsächlich gibt es so viele andere Fälle mit schweren und schwersten Schäden für Staat und Gesellschaft, auch für die Wirtschaft selbst, dass es denen, die ihre Verluste mühelos nach unten weitergeben können, auf ein paar Konkurse und auf einige Tausende Arbeitslose mehr oder weniger nicht mehr ankommt. Von den Opfern redet sowieso niemand.

 

Wer erinnert sich noch des Sportbodenherstellers Balsam? Schneider und Balsam, beide hochgeschätzte, weil erfolgreiche Unternehmer, verursachten mit relativ kleinen Unternehmen in kurzer Zeit einen Schaden von mindestens vier Milliarden Mark. Das sind immerhin 4000 Millionen und wären, umgerechnet, 16 000 (in Worten: sechzehntausend) Banküberfälle, jeder mit einer Beute von einer Viertelmillion Mark. Aber Balsam war kein Bankräuber. Nachdem sein Milliardenbetrug an seinen Kreditgebern anonym angezeigt worden war, versuchte ein Staatsanwalt sogar, die Akte auf Eis zu legen. Und weil der Erste Kriminalhauptkommissar Karl-Heinz Wallmeier gegen die Order von oben den Fall dennoch ins Rollen brachte, wurde ihm ein disziplinargerichtliches Verfahren angehängt.

 

Die meisten der bekanntwerdenden Wirtschaftsdelikte sind schnell wieder vergessen. Es sind einfach zu viele. Die Meldungen überschlagen sich. Bei der Lektüre einiger weniger Zeitungen und Zeitschriften trug die Kriminologin und Redakteurin der Zeitschritt »Business Crime«, Monika Weißler, zwischen April und Juni 1997 unter anderem folgende Meldungen zusammen:

 

- Acht Filialen eines Berliner Bestattungsunternehmens ließen es sich 100 bis 250 DM pro Auftrag kosten, ihre Wettbewerber illegal auszuschalten. Aus „schwarzen Kassen“ floss reichlich Schmiergeld an Beschäftigte in Polizeidienststellen, Bezirkmtern, Krankenhäusern und Pflegeheimen für ertragreiche Auftragsvermittlung.

 

- 40 bis 70 Prozent „Öko-Eier“ erwiesen sich bei Untersuchungen des Deutschen Tierhilfswerks in verschiedenen Testgebieten der Bundesrepublik als Eier aus Legebatterien.

 

- 80 000 DM kassierte die Dresdner Bank dafür, daß sie das Vermögen einer alten Dame in fünf Jahren um 6000 DM vermehrte.

 

- Im Jahre 1995 „verdienten“ 41 Medizinprofessoren der Uni-Klinik in Mainz 46 Millionen Mark Nebeneinnahmen.

 

- 120 deutsche Firmen betrieben Rüstungsschmuggel und belieferten heimlich das iranische Mullah-Regime.

 

- 20 Millionen DM kassierte der Korruptionsring „Netzwerk“, bestehend aus VW-Mitarbeitern, die Zulieferaufträge gegen Schmiergeld vergaben, von dem Züricher Anlagebauer ABB für ein Auftragsvolumen von rund 400 Millionen DM.

 

- 16 Millionen DM Sanierungsaufwand entstand allein in einem einzigen Fall unter vielen anderen Fällen illegaler Entsorgung von pcb-haItigem Sondermüll, den ein führender Unternehmer der Recycling-Wirtschaft als Wirtschaftsgut deklariert hatte.

 

- Dem Bauunternehmer Wolfgang H. wird vorgeworfen, 19 Millionen DM überhöhte Fördergelder unberechtigt für den Bau von Sozialwohnungen kassiert zu haben.

 

- 36 Millionen DM transferierte eine Geldwäsche-Organisation zwischen 1993 und 1995 über eine Wechselstube in Frankfurt a.M. ins Ausland. Hinweise US-amerikanischer Drogenfahnder führten auf die Spur.

 

- 42 Millionen DM Strafe zahlen nach Angaben des amerikanischen Justizministers die Schweizer Chemiekonzerne Hoffman-La Roche und Jungbunzlauer International AG. Sie bekennen sich illegaler Preisabsprachen schuldig. Ihr dadurch erzielter krimineller Profit ist nicht bekannt.

 

- Christoph Meili, der Züricher Wachmann, der die Vernichtung von Dokumenten über die Kollaboration zwischen Schweizer Banken und den Nationalsozialisten verhinderte, ist aus der Schweiz emigriert: „Ich habe in den USA um politisches Asyl gebeten, weil ich in der Schweiz behandelt werde wie ein Krimineller“.

 

- 265 Millionen DM Strafgelder müssen Stromleitungshersteller zahlen, die ein Kartell gebildet hatten und damit Wucherpreise durchsetzten. 14 Hersteller, zwei Organisationen der Kabelindustrie sowie 23 Personen sind in das Verfahren verwickelt.

Es handelt sich - wie gesagt - nur um eine sehr kleine Auswahl aus einer Überfülle von Meldungen. Sie zeigt: Wirtschaftskriminalität ist allgegenrtig und verursacht größere Schäden als alle übrigen Verbrechensarten - außer vielleicht Kriegen. Experten gehen davon aus, dass die Zahl der unentdeckt bleibenden Delikte im Bereich der Wirtschaft besonders hoch ist. Erkennbar ist sie nur an den Symptomen der wirtschaftlichen Dauerkrise.

 

Doch nach öffentlicher und veröffentlichter Meinung sind es keineswegs die profitmaximierenden Herren im Nadelstreifen, die mit der »Tatwaffe Unternehmen« die innere Sicherheit der Staaten und Staatengemeinschaften gefährden. Gefährlich sind - sagen die Ordnungspolitiker, und viele glauben es nur allzu gern - die Ausländer, Asylsuchenden, die illegalen Zuwanderer und Schwarzarbeiter. Innenminister Kanther: „Wer in Deutschland von Kriminalität redet, der muss von den Ausländern reden.“ Vielleicht auch von korrupten Beamten. Das sorgt für Wahlkampfstimmung.

 

Mit dem Thema Wirtschaftskriminalität dagegen ist offenbar kein Staat zu machen. Keine der großen Parteien zeigte sich bisher geneigt, die nachweisliche Gefährdung von Sozialstaat und Demokratie durch Wirtschaftskriminalität im Wahlkampf aufzugreifen.

 

Neuerdings wird vonseiten der Wirtschaft massiv versucht, Delikte, die Arbeiter und Angestellte zum Schaden ihres Arbeitgebers begehen, als Wirtschaftskriminalität darzustellen. Doch der Arbeitnehmer, der seinen Arbeitgeber beklaut, seine Versicherung betrügt, ist kein Wirtschaftskrimineller, er ist ein Dieb oder Betrüger.

 

Bei Wirtschaftskriminalität handelt es sich in der Regel um Kapitalbeschaffungs-, Kapitalverwertungs- und Kapitalsicherungskriminalität. Das aber heißt, es handelt sich um Bereicherungskriminalität der Reichen, der etablierten „Oberwelt“. Sie ist die ganz alltägliche, für sensationelle Berichterstattung nur selten geeignete Kriminalität des Kapitals, die Kriminalität der Wirtschaft.

 

Die Wirtschaft ist - was gern vergessen oder als ganz selbstverständlich hingenommen wird - nach wie vor eine demokratiefreie Zone. In ihr herrscht Eigentumsrecht, nicht demokratisches Stimmrecht, hier gilt nach wie vor das Fürsten- oder Führerprinzip, nicht die repräsentative und schon gar nicht die direkte Demokratie. Freie Wirtschaft steht also in einem strukturellen Widerspruch zur sozialen und demokratischen Rechtsstaatlichkeit.

 

Ein Widerspruch, der durch Tarifautonomie und andere Formen des ungleichen - aber gesetzlich geregelten - Tauziehens von Verbänden und Parteien um die richtigen Grenzwerte des Sozialen und Ökologischen nur unzureichend überbrückt werden kann. Die jeweiligen Grenzen der unternehmerischen Betätigungsfreiheit werden auf demokratischer Grundlage in Gesetzen festgeschrieben. Aber:

 

- Wirtschaftskriminalität ignoriert diese demokratisch zustande gekommenen Gesetze und macht grundsätzlich alles und alle zu ihren Opfern, um neben legalen, zutzliche illegale Profite zu erzielen. Sie richtet sich in erster Linie gegen konkurrierende Wirtschaftsunternehmen, aber auch gegen Geschäftspartner, gegen Kapitalanleger, gegen Versicherungen, also gegen das Kapital selbst. Wenn das Argument Gehör findet, daß Wirtschaftskriminalität eine Gefahr darstelle, dann allenfalls mit Blick auf die Bedrohung der Einzelkapitale selbst oder auch auf das System.

 

- Wirtschaftskriminalität richtet sich auch gegen Arbeitnehmer. Denn die Kriminalität des Kapitals gegen das Kapital zerstört Arbeitsplätze, soziale Sicherungssysteme, ganze Sozialordnungen. Zu ihren Opfern gehören neben den Arbeitern und Angestellten auch die nicht immer mit diesen identischen Verbraucher, Patienten, Klienten, Verkehrsteilnehmer, Beschäftigte und Nutzer von Kultureinrichtungen, Beschäftigte und Mitglieder von Sozialverbänden, Gewerkschaften, Kirchen.

 

- Wirtschaftskriminalität untergräbt daher auch nahezu unbemerkt die fundamentalen Rechts- und Sicherheitsgarantien der Gesellschaft. Sie ruiniert Staat und Kommunen, denn sie räubert - oft auch durch Wegsehen oder gar mit aktiver Unterstützung korrumpierter Politiker und höherer Beamter - die Staats- und Sozialkassen aus. Oft genug verbirgt sie sich hinter der sogenannten kommunalen oder staatlichen Verschwendungssucht und hinter der gewissenlosen Überschuldungspolitik. Und sie setzt damit die für einen sozialen, demokratischen und ökologisch verantwortlichen Rechtsstaat unentbehrliche politische Steuerungskapazität bis zum Grad ihrer Unwirksamkeit herab. So verkümmert soziale, demokratische und ökologische Politik zu symbolischer Gesetzgebung, reduziert sich auf Versprechen und Flagge zeigen, provoziert mit ihrer Untätigkeit und Unwirksamkeit die Sehnsucht nach dem starken Staat, am Ende gar dem Polizei- und Führerstaat.

 

- Wirtschaftskriminalität nimmt keine Rücksicht auf Grenzen und Regulierungen; sie beutet die Menschen aus - und die Natur. Wenn wir vom Gesetzesbruch der Wirtschaft sprechen, muss daran erinnert werden, dass die Vertreter der Wirtschaft vom Staat Rechtssicherheit, Schutz und Freiheit des Eigentums verlangen. In Vergangenheit und Gegenwart haben sie sich immer wieder Gesetze wie Maßanzüge zuschneiden lassen. Diese Gesetze finden sich vor allem im Sozial- und Wirtschaftsrecht. Aus der Sicht derer, die über kein oder nur unbedeutendes Kapital verfügen, ermöglichen oder fördern die meisten dieser Gesetze die völlig legale Bereicherung auf ihre Kosten und - teilweise - auch die Ausplünderung der mittelständischen Schichten durch Kreditgeber und Monopolisten.

 


  De
r den Unternehmern näher als den Arbeitnehmern stehende bürgerliche Rechtsstaat legalisierte und legalisiert - trotz überwundenem Dreiklassenwahlrecht und zugelassener Gewerkschaften, auch trotz propagierter sozialer Mittelstandspolitik - heute noch Wirtschaftsmethoden, die von den meisten Opfern, und nicht nur von diesen, als Verbrechen erlitten und gewertet werden. Die Arbeiterbewegung hatte der legalen Ausbeutung sozialstaatlich-demokratische Grenzen gezogen. Nachdem aber die klassenbewusste Arbeiterbewegung und der Realsozialismus besiegt sind, wittert Kapitalmacht wieder Morgenluft. Nun soll auch noch die gewinnschmälernde „Gefälligkeitsdemokratie“ abgebaut werden, die die Unternehmer den Sozialpolitikern aller Parteien (außer der kapitalfrommen FDP) anlasten.
Dazu muß das Globalisierungsargument herhalten: der sogenannte internationale Wettbewerb. Gemeint ist allerdings nicht der Leistungswettbewerb zwischen konkurrierenden Unternehmen um bessere Produkte, sondern die Senkung der in den ursprünglichen Industrienationen erreichten Demokratie-, Sozial- und Umweltstandards.

 

Globalisierungs- und Wettbewerbsargumente reichen offensichtlich aus, um zu rechtfertigen, dass kostenwirksame Grundprinzipien der Verfassung, Errungenschaften der modernen Zivilisation, nämlich die Unverletzlichkeit der Menschenwürde, die Menschenrechte und die freie Entfaltung der Persönlichkeit, dem Interesse einer profitableren Kapitalverwertung unterworfen werden. Sie reichen auch aus, Chancengleichheit oder auch nur Chancengerechtigkeit, den Schutz der Gesundheit und das Recht auf Bildung, die eigentlich auch den kollektiven Unternehmerinteressen dienen, den individuellen Unternehmerfreiheiten unterzuordnen.

 

Obwohl die meisten Wirtschafts- und Sozialgesetze auf die Interessen der Kapitaleigner zugeschnitten sind, werden sie demontiert und wenig respektiert. Wirtschaftsverbrechen, als der bewusste Verstoß gegen nationale und - soweit im Ansatz vorhanden - internationale Wirtschafts- und Sozialgesetze, sind zu einem Kernproblem der modernen sozial- und rechtsstaatliehen Demokratien geworden. Die Gesetze sind nun einmal nicht mehr nur zum Schutz des bestehenden kapitalistischen Wirtschaftssystems da, der Sozialstaat ist nicht mehr nur „ideeller Gesamtkapitalist“, auch nicht mehr nur „Nachtwächterstaat“, der die Reichen vor Eigentumsfeinden, seien es Diebe oder Kommunisten, schützt.

 

Auch die Bundesrepublik ist - nicht nur laut Verfassung, sondern auch kraft ihrer zur sozialstaatliehen Demokratie stehenden Bürgerinnen und Bürger - ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat. Dieser Staat hat den Schutz wichtiger, man sollte hinzufügen, auch überlebenswichtiger, Rechtsgüter der Menschen zu garantieren.
   All
e diejenigen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die innere Sicherheit oder das Wirtschaftssystem von der Straße, den Werkshallen oder den Gewerkschaftszentralen her bedroht glauben, sollten sich mit dem Gedanken vertraut machen, daß die Gefahr mehr denn je von den demokratisch unkontrollierten Chefetagen unserer transnational und an geltendem Recht vorbei operierenden Unternehmen ausgeht. Denn wenn und soweit sich dort wirtschaftskriminelle Praktiken zur Erzielung ständig größerer Anteile an illegalen Gewinnen durchsetzen und nach den Gesetzen des Wettbewerbs alle übrigen Marktteilnehmer in den Sog dieses Strudels hineinziehen, dann droht diesem Wirtschaftssystem die Selbstzerstörung.   Erinnert sei an einen Satz des damaligen FDP-Wirtschaftsministers Hans Friderichs, der anlässlich der Novellierung des Wettbewerbsrechts am 14. Juni 1973 in seiner Stellungnahme vor dem Deutschen Bundestag sagte: „Die Novellierung wesentlicher Elemente der Wettbewerbspolitik gebietet den Selbstzerstörungsprozessen unseres praktizierten Systems Einhalt. Zehn Jahre später war die FDP - und auch ihr vom Minister zum Vorstandssprecher der Dresdner Bank aufgestiegene Hans Friderichs - tief in den Flick-Parteienspenden-Skandal verwickelt. Die wirtschaftshörigste Partei der Bundesrepublik Deutschland war es, die mit ihren Wirtschafts- und Finanzministern einen größeren Beitrag zum Selbstzerstörungsprozess der sozialen Marktwirtschaft geleistet hat als alle mutmlichen zerstörerischen Kräfte, falls sie dies wirklich von unten oder von aen versucht haben sollten.

 

Wirtschaftskriminalität, die unter dem weiten Mantel staatlich garantierter unternehmerischer Betätigungsfreiheit stattfindet und sich unter den wohlwollenden Blicken von Finanzverwaltungen und Gerichten enorme Wettbewerbsvorteile und Extraprofite verschafft, gesetzestreue Wettbewerber ausschaltet, ruiniert, private Monopolisierung der rkte vorantreibt und die Kontroll- und Regelfunktionen der Marktmechanismen aer Kraft setzt, zerstört die Grundlagen des politischen Systems, auf das sich das Kapital zu seiner metademokratischen Selbstlegitimation beruft.

 

 

 

Der erste öffentliche Kongress über Wirtschaftskriminalität fand im Oktober 1996 in Frankfurt a. M. statt. Aus ihm ist das Buch hervorgegangen. Veranstalter waren „Business Crime Control“, der DGB Hessen, die Gewerkschaft Handel Banken und Versicherungen, die Gewerkschaft Holz und Kunststoff, der Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen, der Fachbereich Sozialarbeit der Fachhochschule Frankfurt und nicht zuletzt die 1989, am 200. Jahrestag der Französischen Revolution unter dem Motto „Freiheit, Gleichheit, Mitmenschlichkeit“ gegründete „Bürgerinitiative für Sozialismus“.

 

„Dieser Kongreß“, sagte der stellvertretende Vorsitzende von Business Crime Control, Kriminaldirektor a. D. Dieter Schenk, in seiner Eröffnungsrede, „ist der erste in der Geschichte Deutschlands, der sich unter dem Aspekt der Verteidigung des Sozialstaats und der Demokratie dem Problem der Wirtschaftskriminalität widmet. Natürlich gab es schon einige Expertentreffen, meist handverlesene juristische Zirkel und Gruppen von Top-Spezialisten, die sich mit Repräsentanten der Politik trafen, um über Erscheinungsformen, soziologische und psychologische Aspekte von Wirtschaftskriminalit, vor allem Fragen des Wirtschaftsstrafrechts, der besseren Gesetzgebung, der Strafverfolgung und des gerechten Strafmaßes, nachzudenken. Geändert hat sich bekanntlich wenig. So trafen sich im November 1976 in Straßburg die Direktoren der Kriminologischen Forschungsinstitute zu ihrer zwölften Konferenz und behandelten dort die kriminologischen Aspekte der Wirtschaftskriminalität. Die Öffentlichkeit hat von diesem Treffen keine Kenntnis genommen.

 

Sieben Jahre später, 1983“, so Schenk, „in der Zeit, als ich in der Stabsstelle Interpol des Bundeskriminalamtes tätig war, fand auch dort eine zweifellos wichtige Expertentagung zum Problem der Wirtschaftskriminalit statt. Wieder war es ein Austausch von Expertenwissen ohne Breitenwirkung. Einer meiner BKA-Kollegen, Kriminaldirektor Wilhelm Berk, fand damals Worte der Erklärung, deren Aktualität man heute kaum bezweifeln kann.“ Berk hatte gesagt: „Die Wirtschaftskriminalität eines Landes steht in enger Beziehung zu seiner Wirtschaftsordnung. Bei dem heutigen extrem harten Konkurrenzkampf und einer schon längst nicht mehr an den Realitäten orientierten, psychologisch raffiniert gestalteten Suggestivwerbung in allen Massenmedien der verunsicherten Konsumentengesellschaft, die nach immer höherem Lebensstandard strebt, werden die moralischen und gesetzlichen Grenzen gewaltsam hinausgeschoben, um immer größere Freiräume zu schaffen. An die Stelle des seriösen Wirtschaftsverhaltens ist das Machbare getreten; das Machbare ist legitim geworden. In einem so offenen Wirtschaftssystem wird die Bandbreite der Ansatzpunkte und Einstiegsglichkeiten für kriminelle Elemente durch die derzeitige Wirtschaftslage noch erheblich erweitert.“

 

Schenk kommentierte die Aussage seines Kollegen so: „Damit mag in Zusammenhang stehen, daß die Zahl der Einkommensmillionäre 1989 bis 1992 in den alten Bundesländern von 17 000 auf 23 000 stieg, um rund 40 Prozent. Narlich, man kann auch mit ehrlicher Arbeit Millionär werden, aber der Kriminalist, der ich mal war, kommt angesichts dieser Zahlen ins Grübeln.“

 

Das BKA befasst sich - zumindest sieht es von aen so aus - nach wie vor mit Wirtschaftskriminalität nur ganz am Rande. Kriminalitsformen wie Terrorismus und Organisierte Kriminalität finden ungleich größere Beachtung. 1994 waren zehn von 4320 der BKA-Beamten zur Bekämpfung der Umweltkriminalität eingesetzt, die bekanntlich ein Unterfall von Wirtschaftskriminalität ist. Zehn sind es auch heute noch. Dagegen wird - so Schenk – „immense Manpower in eine überholte Drogenbekämpfung fehlinvestiert“. Lediglich in den USA liegen die Verhältnisse etwas günstiger. Aber auch dort wird Verbrechensbekämpfung nicht in erster Linie auf dem Gebiet der sogenannten „white collar crime“ oder „corporate crime“ betrieben.

 

Dieter Schenk betonte deshalb in seiner Eröffnungsrede zum Kongress: „Als Gründungsmitglied und einer der Vorsitzenden der Organisation Business Crime Control betrachte ich es als einen Durchbruch, daß dieser Kongreß fünf Jahre nach der Gründung von BCC endlich in dem Rahmen stattfinden kann, der dem Problem angemessen ist.“

 

Es war ein Kongress, an dem nicht nur juristische, kriminalistische und sozialwissenschaftliche Spezialisten teilnahmen, sondern sozialkritische Publizisten und eine große Zahl sozial und ökologisch engagierter Arbeiter, Angestellte, Beamte, Studentinnen und Studenten. Dieter Hooge, der Vorsitzende des Landesbezirks Hessen des Deutschen Gewerkschaftsbundes, der neben Dieter Schenk den Kongress eröffnete, sprach im Zusammenhang mit der Wirtschaftskriminalität vom neoliberalen Zeitgeist: „Wir müssen dazu beitragen, daß er nicht weiter zum Spielball geistig-moralischer Deregulierung wird. Steuerhinterziehung und Steuervermeidung werden im Naturschutzpark des großen Geldes Bundesrepublik Deutschland in weiten Teilen der Öffentlichkeit beharrlich als Kavaliersdelikte betrachtet. Das ist kein Zufall, daran wird gedreht. Ich würde mich nicht wundern, wenn Straffreiheit und Amnestie als Pflege des Wirtschaftsstandorts Deutschland gefordert rden. Wenn ich mir den Wirtschaftsteil der FAZ ansehe, wundert mich langsam nichts mehr.“

 

Hooge nannte ein Beispiel: „Als der begründete Verdacht bei der Frankfurter Commerzbank (höchstes Bürohaus Europas) aufkam, dass dieses Geldhaus möglicherweise seit 1988 jährlich 500 Millionen Steuern vermieden habe, wurde heftig gezetert. Da war von Rufmordkampagne und Kriminalisierung des Bankgewerbes die Rede. Direktoren protestierten und sahen den Ruf Frankfurts als Bankenplatz in Gefahr. Unabhängig davon erstatteten die Herren mit den Nadelstreifen aber sofort Selbstanzeige, um - rein prophylaktisch - einer Strafverfolgung zu entgehen. Ich habe seinerzeit versucht, öffentlich zu thematisieren, ob nicht solches Geschäftsgebaren bei großen Banken (wenn dies nicht nur bei der Commerzbank - sozusagen - üblich ist) ein Licht auf die Ursachen der horrenden Verschuldung der Stadt Frankfurt und auch des Landes Hessen wirft. Diese Fragestellung wurde von den Frankfurter Zeitungen und auch vom Hessischen Rundfunk nicht aufgegriffen. Nach betriebswirtschaftlichen Kriterien betrachtet sind die Stadt Frankfurt und das Land Hessen bereits pleite. Zwar liegt Hessen beim Wirtschaftswachstum im ersten Halbjahr 1996 weit vorn im Vergleich zu allen Bundesländern. Trotzdem gibt es im Haushalt 1997 des Landes eine Deckungslücke. Weitere Einsparungen rigoroser Art im Sozialbereich kündigen sich an. Die Wirtschaft wächst, der DAX explodiert, die Finanzen des Landes aber befinden sich in einem katastrophalen Zustand. Wie passt das zusammen?“

 

„Wir müssen“, so Hooge, „die Definition dessen, was Wirtschaftskriminalität ist, sehr weit fassen. Denn: Illegale Beschäftigung, Scheinselbständigkeit, der Einsatz von EU-Leiharbeitern, von Werkvertrags Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern oder auch von sogenannten geringfügig Beschäftigten, Lohn- und Sozialdumping bei geschätzten fünf Millionen derartiger Arbeitsverhältnisse - ist dies nicht auch schwere Wirtschaftskriminalität?“

 

Hooge verwies schließlich darauf, dass bei der Bundesregierung kein politischer Wille zu erkennen sei, diese Wirtschaftskriminalität zu bekämpfen. „Und wenn die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände mit sturer Beharrlichkeit im Tarifausschuss des Bundesarbeitsministers die Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags für einen Mindestlohn in der Bauindustrie blockiert, dann hat dies eine simple Ursache: Lohn- und Sozialdumping - ein gigantisches Umverteilungsprogramm von unten nach oben. Es geht um Milliarden, die auf diesem Weg über den Profit in die Taschen von Unternehmern und Selbständigen transferiert werden. Und es ist dazu noch ein krimineller Griff in die Sozialkassen unseres Landes. Aber wird dies in der Öffentlichkeit - besser: in der veröffentlichten Meinung - als Wirtschaftskriminalität betrachtet? Und was ist Tarifflucht? Was ist Druck auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, unbezahlte Mehrarbeit zu leisten, wie z. B. bei Burda in Offenburg oder bei Viessmann in Nordhessen? Ist dies Wirtschaftskriminalität? Und wenn unsere Kolleginnen und Kollegen in der Automobilindustrie und anderen Branchen nicht Widerstand geleistet hätten, gestreikt hätten, wäre dann nicht in weiten Bereichen der Wirtschaft Rechtsund Tarifbruch bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall Praxis geworden? Anstatt flächendeckende Flächentarifverträge anzuwenden, wäre dann flächendeckend Tarifbruch und Rechtsbruch praktiziert worden? Und wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter.“

 

Hooge resümierte: „Gegen Wirtschaftskriminalität, gegen die Zerstörung der sozialen Demokratie ist eine breite soziale Bewegung notwendig. Widerstand gegen Wirtschaftskriminalität ist möglich. Widerstand ist unerlässlich, damit die Ökonomie die Demokratie nicht auffrisst.“

 

 

 

Die in diesem Band versammelten Aufsätze greifen alle grundlegenden Fragen sowohl unter historischen als auch unter aktuellen Aspekten auf. Gesamtgesellschaftliche und spezielle Problemanalysen werden aus verschiedensten Blickwinkeln mit Hilfe unterschiedlichster Bewertungskriterien untersucht. Kennzeichen aller Aufsätze ist es, dass sie nicht nur das Strafrechts-, sondern auch das Sozialstaats-, das Ökologie- und das Demokratieproblem in die Betrachtungen und Analysen einbeziehen, wie es von den Veranstaltern des Kongresses beabsichtigt war.

 

Gedankt sei allen, die zum Gelingen des Kongresses beigetragen haben. Stellvertretend r viele seinen genannt: der Rektor der Fachhochschule Frankfurt a. M., Rolf Kessler; der Komponist Ingomar Grünauer und die Sängerin Petra Bassus, die musikalische Beiträge zum Thema leisteten; der Künstler Klaus Staeck, der eine Plakatausstellung stiftete; Ralph Kollwig und Heinz in der Wiesche.

 

Dieses Buch widmen wir in Dankbarkeit dem Schauspieler Rolf Becker, der zu dem Frankfurter Kongress einen tief beeindruckenden, leider nicht reproduzierbaren künstlerischen Beitrag leistete. Er bot mit seinen Rezitationen ein großartiges Beispiel dafür, dass sozial engagierte Künstler für die Aufklärung über vordergründig eher abstrakt wirkende Themen unentbehrlich sind.

 

 

 

Frankfurt a. M. /Hannover, im Juli 1997

 

 

 

Hans See / Eckart Spoo


 

 

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