Frankfurter Erklärung


"Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit, oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwen- den; zwanzig Prozent, es wird lebhaft; fünfzig Prozent positiv waghalsig; fur hundert Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß: 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. " 

T.l. Dunnings, Funktionär der englischen Gewerkschaftsbewegung des 19. Jahrhunderts, zitiert von Karl Marx im "Kapital". (Band I)

 

Frankfurter Erklärung der Bürger- und Menschenrechtsorganisation Business Crime Control e.V. von 1996*

Wir warnen davor, wirtschaftskriminelle Praktiken zu verharmlosen oder als illegales Handeln einiger "schwarzer Schafe" zu bagatellisieren. Wirtschaftskriminalität muss vielmehr als ökonomische Destruktiv-kraft mit weit reichenden negativen gesellschaftlichen Auswirkungen verstanden und entschieden bekämpft werden. Getrieben von der Aussicht, mit illegalen Mitteln hohe Gewinne realisieren zu können, richten Wirtschaftskriminelle schwere materielle Schäden an. Zudem untergraben sie Demokratie, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit.

 

Wirtschaftsverbrechen sind eine Form der "Kriminalität der Mächtigen". Deren (häufig verdeckter) demokratiewidriger Einfluss auf Parteien, Parlamente und Regierungen ist verantwortlich dafür, dass zahlreiche Wirtschaftsgesetze, z.B. Teile des Steuerrechts, kriminalitätserzeugend sind. Denn diese Gesetze legalisieren sozialschädliche, umweltzerstörende und menschenrechtsverletzende Praktiken der Bereicherung. So ist etwa die über Jahrzehnte gewährte Steuerbegünstigung von Bestechungsgeldern, die an ausländische Geschäftspartner oder Regierungsmitglieder gezahlt wurden, geradezu eine staatliche Aufforderung zur Korruption gewesen, deren Folgen durch eine bloße Gesetzesänderung, die inzwischen stattgefunden hat, nicht wieder beseitigt werden können.

 

Die Bekämpfung wirtschaftskrimineller Praktiken erfordert mehr als nur die konsequente Anwendung der einschlägigen Strafgesetze und eine angemessene personelle und materielle Ausstattung der entsprechenden Dezernate der Strafverfolgungsbehörden. Der Kampf gegen Wirtschaftskriminalität, der zugleich ein Kampf für die soziale und rechtsstaatliche Demokratie ist, kann auch nicht erfolgversprechend mit Law-and-Order-Parolen und dem Ruf nach noch mehr Überwachungsstaat geführt werden. Notwendig ist vielmehr eine hinreichend effektive gesellschaftliche Kontrolle über die Wirtschaft, das heißt: mehr Demokratie. So muss zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität eine dem Strafrecht weit vorgelagerte - und von illegaler Einflussnahme auf Abgeordnete freie - Gesetzgebung zur Bändigung ökonomischer Macht betrieben werden.

 

Im Gegensatz zur herrschenden Politik neo liberaler Deregulierung, die das Kapital vom gesellschaftlichen Zwang zur sozialen, ökologischen und demokratischen Rücksichtnahme entbinden soll, hält Business Crime Control die Regulierung ökonomischer Prozesse zur Herstellung größerer sozialer Grechtigkeit und zum Schutz der menschlichen Lebensgrundlagen für eine dringende Notwendigkeit. Umgehend sollte auch die Gewerbeaufsicht verbessert werden, ebenso die Betriebs und Steuerprüfung. Notwendig ist vor aIJem die Demokratisierung der Betriebe, also nicht die Abschaffung, sondern die Ausweitung der überbetrieblichen Mitbestimmung. An ihr sind neben Gewerkschaftsvertretern auch Repräsentanten der lokalen Behörden und Vertreter von Bürgerinitiativen zu beteiligen. Dadurch würden die Möglichkeiten stark verringert, dass Unternehmen bei ihren Investitionsentscheidungen von vornherein den Bruch von Gesetzen als ein Mittel der Gewinnmaximierung einkalkulieren können.

 

Darüber hinaus muss um mehr Möglichkeiten demokratischer Einflussnahme der Gesellschaft aufUnternehmensentscheidungen mit dem Ziel gerungen werden, dass die Kapitalanlage und Kapitalverwertung in gesellschaftlich nützlichen, sozial und ökonomisch verantwortbaren Bereichen stattfindet. Schon heute böte beispielsweise eine hohe Besteuerung von Spekulationsgewinnen die Möglichkeit, das wirtschaftliche und soziale Krisen erzeugende Spekulantentum einzudämmen. Durch die Harmonisierung des europäischen und internationalen Wirtschafts- und Sozialrechts muss Wirtschaftskriminellen die Möglichkeit genommen werden, vor Strafverfolgung ins Ausland auszuweichen.

Auch muss - das wäre ein Schritt zu mehr Wirtschaftsdemokratie - die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber den Unternehmen gestärkt werden. So sollten Richter keine Nebentätigkeiten mehr in Unternehmen (zum Beispiel in Banken) ausüben dürfen. Soweit Nebentätigkeiten in einem gewissen Umfang erlaubt bleiben, sollten diese bedingungslos offen gelegt werden. Dies sollte für alle Beamte in mittleren rod gehobenen Positionen gelten und auch für die Einkünfte Ier Parlamentarier.

 

Erforderlich ist auch die Beseitigung von Forschungsdefiziten m Bereich der Wirtschaftskriminologie und Kriminalsoziologie, da ohne verbesserte Kenntnisse der Verbrechen der Wirtschaft die notwendige Aufklärung über und die Ächtung von Wirtschaftskriminalität nicht zu leisten sind. Diese Aufklärung muss zudem entschieden die rechtsradikale Argumentation zurückweisen, die Wirtschaftsverbrechen vor allem Ausländern anlastet. Früher setzten die Nazis die sozialschädlichen Folgen von Wirtschaftsverbrechen dem mit den Juden identifizierten internationalen Wucher- und Spekulationskapital gleich. Heute wird von interessierter Seite das internationale organisierte Verbrechen, über dessen Gefährlichkeit für Business Crime Control kein Zweifel besteht, aus durchsichtigen Gründen zur gefährlichsten Form von Wirtschaftsverbrechen erklärt. Wer diese Meinung verbreitet, betreibt eine gefährliche Ablenkung von der wesentlichsten Ursache des organisierten Verbrechens, der Wirtschaftskriminalität. Sie schafft die mentalen und strukturellen Voraussetzungen dafür, dass sich das Organisierte Verbrechen so stark verbreiten kann.

 

Die Wurzel vieler unserer gegenwärtigen Weltprobleme ist mitten in den wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Strukturen zu suchen, die der Wirtschaft enorme Freiheitsräume schaffen und von dieser immer rücksichtloser missbraucht werden. Immer häufiger kommt es zum systematischen Gesetzesbruch zur Erzielung von Extraprofiten auf Kosten der Gesellschaft, der des sozialen und demokratischen Rechtsstaats und des ökologischen Gleichgewichts. Innerhalb dieser Strukturen einer teilweise kriminellen Ökonomie der seriösen Unternehmen, sozusagen als deren Komplementärsystem, gedeiht auch das organisierte Verbrechen. Dieses kann nicht wirksam bekämpft werden, bevor nicht endlich die Wirtschaftskriminalität gesellschaftlich geächtet und mit allen rechtsstaatlichen Mitteln bekämpft wird.

 

* Die „Frankfurter Erklärung“ wurde auf der BCC-Konferenz 1996 verabschiedet. Diese Konferenz wurde von der Sozialistischen Bürgerinitiative für Freiheit, Gleichheit und Mitmenschlichkeit mitgetragen. Hans See und Eckart Spoo haben dazu als Sammelband eine Dokumentation der Vorträge und dem Titel „Wirtschaftskriminalität – kriminelle Wirtschaft“ mit Beiträgen der beiden Herausgeber, Otto Köhler, Werner Rügemer, Rainer Roth, Rolf Knecht, Herbert Schui, Reinhard Kühnl, Eberhard Czichon,, Jutta Ditfurth, Jörg Heimbrecht, Erich Diefenbacher, Rolf Uesseler, Dieter Hummel, Wolfgang Schaupensteiner, Manfred Such, Rolf Gössner, Friedrich Heckmann, Johannes Ludwig, Andreas Guha u.a. herausgeben. (Distel Verlag Heilbronn 1997, 260 Seiten) Zur Kenntnis genommen hat die „Fachwelt“ dieses kapitalismuskritische Buch natürlich nicht. Vielleicht haben wir nicht alle Rezipienten entdeckt, aber wenigstens einen können wir nennen: André Amend, Prävention von Wirtschaftskriminalität in Unternehmen. Es handelt sich allerdings nur um eine politisch belanglose Diplomarbeit, die am Fachbereich Wirtschaft und Recht der FH-Aschaffenburg verfasst wurde und im Internet zu finden ist. Auch für die Betriebswirtschaft gilt, wenn auch in Bezug auf die Organisation der spezifizierten Produktion, was Friedrich Engels über die dem Handel verpflichtete Nationalökonomie schrieb: „Die Nationalökonomie entstand als eine natürliche Folge der Ausdehnung des Handels, und mit ihr trat an die Stelle des einfachen, unwissenschaftlichen Schachers ein ausgebildetes System des erlaubten Betrugs, eine komplette Bereicherungswissenschaft“.